Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
das Festhalten am Guten zur obersten Pflicht erhob.
Widerstrebend ließ er die Leckerbissen links liegen und steuerte auf die schmale Leiter zu, die zu dem über den Stallungen gelegenen Knappenquartier führte. Eigentlich hatte er noch ein wenig reiten üben wollen, aber der Vorfall mit Friko hatte ihm die Lust genommen. Er seufzte schwer. Wider Willen musste er sich eingestehen, dass ihm das Leben auf der Burg trotz aller Schwierigkeiten so gut gefiel, dass er hoffte, Brigitta nachkommen lassen zu können. Aber dennoch schlichen sich immer häufiger Zweifel ein, ob dies der richtige Ort für ihn war. Zwar empfand er eine tiefe Zuneigung für Wulf von Katzenstein, doch kam er nicht umhin, ihn immer wieder mit Bertram Steinhauer zu vergleichen. Wohingegen dieser ihn eigenhändig gelehrt hatte, Klöpfel und Eisen zu führen, bekam er Wulf von Katzenstein fast nur bei den Mahlzeiten zu Gesicht. Oder wenn der Burgherr, der mit dem Aufbau einer neuen Zucht beschäftigt war, ihm den Wert eines bestimmten Reittieres erklärte. Es stimmte – bei diesen Gelegenheiten widmete der Ritter ihm so viel Aufmerksamkeit, zeigte so viel Interesse, dass seine Gemahlin immer reservierter wurde. Doch konnte dies die verlorenen Jahre nicht auslöschen.
Stöhnend erklomm er die krummen Sprossen, schob Schwert, Schild und Lanze über den strohbedeckten Boden und ließ sich auf seinen Strohsack fallen, aus dem eine dicke Staubwolke aufstieg. Gegen einen Hustenanfall ankämpfend wischte er sich den Schweiß aus den Augen und starrte an die Decke. Seine Muskeln brannten. Anders als bei der Arbeit auf der Baustelle hatte er bei den Kampfübungen das Gefühl, in einem ungeschickten, linkischen Körper gefangen zu sein, der seinem Willen nicht gehorchte. Auch war es ungewohnt, dass er mit einem Mal von Jüngeren überflügelt wurde, da er auf der Baustelle stets zu den talentiertesten Hauern gezählt hatte. Er zog die Beine an und schloss die Augen. Und dann die nagende, ihn allmählich auffressende Sorge um Brigitta! Der sich mit jedem Tag weiter ausbreitende Eiszapfen in seiner Magengrube schien alle Wärme aus seinem Körper zu saugen – wie immer, wenn er an sie dachte. Wo nur der Bote blieb?! Wenn er nicht bald Nachricht von ihr erhielt, würde er entgegen aller Warnungen seines Vaters nach Ulm zurückkehren, um zu verhindern, dass sie Ortwins Frau wurde. Ein Stachel der Reue gesellte sich zu dem Gefühl der Kälte. Hatte er nicht schon viel zu lange gewartet?
Die Ankunft eines Pagen riss ihn aus seinem Brüten. »Euer Vater schickt nach Euch«, informierte ihn der etwa achtjährige Knabe, der geduldig wartete, bis Wulf sich mit steifen Gliedern erhoben hatte. Nachdem er einige verirrte Strohhalme aus seiner Kleidung gezupft hatte, folgte er dem Burschen in den Palas, wo ihn in der Halle nicht nur sein Vater, sondern – neben den ersten Gästen für den Abend – auch der ausgesandte Bote erwartete.
Sollte Gott seine Gebete erhört haben?, fragte er sich bang, während er darum kämpfte, die Kontrolle über seine butterweichen Beine nicht zu verlieren.
»Es tut mir leid.« Wulfs Herz setzte aus, als er den Ausdruck auf dem Gesicht des erschöpften Mannes sah, der bedauernd den Kopf schüttelte. »Ich bringe schlechte Neuigkeiten.« Während Wulf die Sinne zu schwinden drohten, dirigierte die starke Hand seines Vaters ihn zu einem Schemel, auf den der Ritter ihn niederdrückte.
»Lass uns allein«, befahl er dem Mann, der sichtlich erleichtert die Halle verließ. Daraufhin zog Wulf von Katzenstein ebenfalls einen Hocker zu sich heran und betrachtete seinen Sohn einige Zeit schweigend. »Das Haus des Mädchens steht unter Quarantäne«, sagte er schließlich mitfühlend und schickte einen Blick in Richtung Fensterfront, da die Gäste ihre Unterhaltungen unterbrochen hatten, um dem Gespräch neugierig zu lauschen. Er beugte sich näher zu Wulf und fügte leise hinzu: »Die Pest ist nach Ulm zurückgekehrt.«
Obschon er alle Willenskraft zusammennahm, schossen Wulf die Tränen in die Augen. »Bis Maria Schnee darf keiner der Bewohner das Haus verlassen und kein Besucher es betreten«, ergänzte der Ritter. »Erst dann werden die Wachen abgezogen.« Wulf zwang sich, die Tränen zu schlucken. Mit brennenden Augen starrte er an seinem Vater vorbei durch eines der Fenster, vor dem ein Paar Mauersegler ein der Schwere der Situation spottendes Spiel trieb. Als er blicklos den wirren Flug verfolgte, verwandelte sich die Taubheit in seinem
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