Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
... Ich kann es nicht ertragen, daran zu denken.
Mary macht nun mich allein für ihren Schmerz und ihren Verlust verantwortlich, an ihren eigenen Anteil an dieser Tragödie denkt sie nicht. Sie gibt mir die Schuld, als hätte ich George und Anne retten können, als hätte ich an jenem Tag nicht alles getan, was in meiner Macht stand, an jenem letzten Tag, auf dem Schafott, als am Ende niemand mehr etwas auszurichten vermochte.
Und sie ist im Unrecht, mir die Schuld zu geben. Mary Norris verlor ihren Vater Henry am selben Tag und aus demselben Grunde, doch sie grüßt mich stets mit Ehrerbietung und einem Lächeln. Sie trägt mir nichts nach. Ihre Mutter hat Mary gelehrt, dass das Zornesfeuer des Königs jeden erfassen kann - es hat keinen Sinn, die Überlebenden zu schmähen, die ihm rechtzeitig entrinnen konnten.
Catherine Carey ist eine Jungfer von fünfzehn Jahren. Sie wird mit den anderen jungen Mädchen die Gemächer teilen: mit unserer gemeinsamen Cousine Katherine Howard, mit Anna Bassett, mit Mary Norris und mit anderen ehrgeizigen Ehrenjungfrauen, die nichts wissen und alles erhoffen. Ich werde sie anleiten und beraten, weil ich eine erfahrene Hofdame bin. Catherine Carey wird ihren Freundinnen nichts von den Stunden berichten, die sie mit ihrer Tante Anne im Tower verbracht hat, nichts von Vereinbarungen in letzter Sekunde, auf den Stufen des Schafotts getroffen, nichts von der Begnadigung, die so sicher kommen sollte und doch nie kam. Sie wird ihren Freundinnen nicht erzählen, dass wir alle schuldig sind, weil wir Anne nicht vor dem Richtblock bewahrten - auch ihre Mutter nicht, diese Heilige. Catherine ist als eine Carey-Tochter aufgezogen worden, aber im Grunde ist sie eine Boleyn, ein Bastard des Königs und eine Howard durch und durch: Sie wird wissen, dass sie den Mund halten muss.
Solange die neue Königin noch nicht da ist, müssen wir uns ohne sie einrichten und warten. Das Wetter ist nicht günstig für die Reise, deshalb braucht sie viel Zeit, um von Düsseldorf nach Calais zu gelangen. Inzwischen sind alle der Meinung, dass sie es nicht bis Weihnachten schaffen wird. Wenn ich ihr Ratschläge geben dürfte, würde ich sie drängen, die Überfahrt dennoch zu wagen. Die englische See ist im Winter gefährlich, das weiß ich wohl, aber die Braut sollte zu ihrer Hochzeit nicht zu spät kommen, denn der König liebt das Warten nicht. Er ist kein Mann, dem man etwas verweigern darf.
Um die Wahrheit zu sagen: Er ist nicht mehr der strahlende Prinz von einst. Damals, als ich neu am Hofe war, da war er der goldene König, der junge Gemahl einer schönen Königin. Man nannte ihn den schönsten Fürsten der Christenheit, und das war keine Schmeichelei. Mary Boleyn war in ihn verliebt, Anne war in ihn verliebt, ich war in ihn verliebt. Es gab kein Mädchen bei Hofe, kein Mädchen im Lande, das ihm hätte widerstehen können.
Doch dann wandelte sich sein Gemüt. Er begehrte auf gegen die Ehe mit seiner Gemahlin, der Königin Katharina, die eine gute Frau war. Anne Boleyn lehrte ihn Grausamkeit. Ihr Hofstaat, ihre jungen, klugen und grausamen Höflinge, zu denen auch ich zählte, setzten der Königin zu, bis sie sich in trotziges Leid hüllte. Wir lehrten den König, zu unserer ketzerischen Melodie zu tanzen. Wir machten ihn glauben, die Königin hätte ihn belogen, dann träufelten wir ihm den Verdacht ein, dass Wolsey ihn hintergangen hätte ... Doch alle diese Ränke hatten zur Folge, dass der nimmer müde Geist des Königs von Argwohn gegen uns erfüllt wurde; wir vermochten ihn nicht mehr zu beherrschen. Schließlich überzeugte Cromwell den König, dass Anne ihn betrogen habe, und die Seymours drängten ihn, zu glauben, dass wir alle an einer Verschwörung beteiligt seien. Am Ende verlor der König mehr als eine Ehefrau oder zwei Ehefrauen: Er verlor das Vertrauen in seine Mitmenschen. Wir lehrten ihn Misstrauen, und der goldene Glanz des jungen Prinzen wurde getrübt. Nun ist er von Menschen umgeben, die ihn fürchten, und ist zum Tyrannen geworden, zu einer Gefahr - wie ein Bär, der nur noch von griesgrämiger Tücke geleitet wird. Er drohte Prinzessin Maria mit Hinrichtung, wenn sie sich ihm widersetze, und ließ sie in der Folge für illegitim erklären. Die Prinzessin Elisabeth, unsere Boleyn-Prinzessin, meine Nichte, hat er ebenfalls für illegitim erklärt, und ihre Gouvernante berichtet, dass das Kind nicht einmal mehr anständig gekleidet wird. Und schließlich Henry Fitzroy, des Königs
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