Das Erbe der Pilgerin
will das nicht! Es mag ein letzter Ausweg sein, wenn deine Burg morgen gestürmt wird.« Wenn eine Burg kurz vor der Eroberung stand, nahmen oft alle Bewohner das Consolamentum und gingen bereitwillig als Parfaits in den Tod. »Aber doch nicht, um dich einem Mann zu entziehen, der bisher meines Wissens noch nie Gewalt angewandt hat, um ein Mädchen in sein Bett zu zwingen. Und selbst wenn. Das überlebst du. Gott will, dass du lebst, Geneviève!«
»Gott will meine Seele befreien!«, gab Geneviève zurück.
Abram stöhnte. »Dies ist genau der richtige Moment für theologische Auseinandersetzungen. Also schön, Miri, wir gehen nach Toulouse und deuten noch ein paar Sterne. Vielleicht kommst du irgendwann nach, Oheim … äh … Herr Gérôme. Mit Miris geliebten Katapulten.«
»Dazu muss ich dir noch einiges sagen!« Miriam schien den Grafen umgehend zu vergessen und griff nach den Plänen im Ärmel ihres Kleides. »Es müssen unbedingt Nachbesserungen ausgeführt werden, es …«
Abram reichte Geneviève einen Becher Wein und bestand darauf, dass sie trank.
»Wir beide«, sagte er dann, »rufen jetzt die Mädchen und die Knappen des Herrn Raymond zusammen und verkünden ihnen die Neuigkeit. Und morgen reiten wir nach Toulouse und trotzen allen Feinden unseres Lebens und unseres Glaubens. Ob sie Raymond heißen oder Simon! Du bist so jung, Geneviève. Es ist noch nicht die Zeit zu sterben!«
Sophia von Ornemünde nahm die Nachricht bezüglich des Umzugs mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits freute sie sich, Montalban verlassen zu können. Die Enge in der übervölkerten Burg erdrückte sie, und auch wenn sie ihre Furcht vor der Begegnung mit Rittern inzwischen weitgehend abgebaut hatte, fühlte sie sich doch unwohl. In Toulouse gab es reine Frauentrakte, da würde sie sich sicherer fühlen. Aber andererseits war Flambert in Toulouse – jedenfalls nahm sie das an. Sie würde ihn wiedersehen, und er würde sie erneut bedrängen. Und dabei wusste sie immer noch nicht, was genau sie für den jungen Ritter empfand. Im letzten Jahr hatte sie um ihn gebangt, als er mit dem Heer des jungen Grafen kämpfte. Genauso ängstlich wie Geneviève hatte sie den Nachrichten vom Ausgang der Schlachten entgegengefiebert. Aber wenn er ihr nun wieder seine Liebe erklärte, wenn sie ihn wieder küssen sollte … Dabei war der letzte Kuss ja eigentlich schön gewesen … Sophia spielte nervös mit Dietmars Medaillon, das sie in Montalban fast immer trug. Die anderen Mädchen hatten längst aufgehört, sie damit zu necken. Bei Dietmar hatte sie nie auch nur den geringsten Zweifel gehegt. Aber es war so lange her …
Wie sich herausstellte, hatte der Graf bei Nacht noch eine Eskorte für Geneviève und die Maurin geschickt – wie Salomon schon angemerkt hatte, war ihm wohl aufgegangen, dass die beiden Frauen sich einem einzigen Ritter zu leicht widersetzen konnten. Nun brachen sie am nächsten Tag in einer großen Reisegesellschaft auf. Miriam bestand darauf, dass die Mädchen ihrem Stand entsprechend reisten und nicht wie Flüchtlinge nur mit dem Nötigsten. Die Frauen ritten auf ihren Zeltern, auf zwei Wagen wurden Truhen mitgeführt. Miriam hatte sich wieder in ihre orientalische Reisekleidung gehüllt und wirkte sehr geheimnisvoll. Für das Verladen der Katapulte hatte zu ihrem Bedauern die Zeit nicht gereicht. Dabei hätten die paar Lasten die Reise auch nicht langsamer gemacht. Die Gesellschaft brauchte ohnehin fast zwei Tage für die wenigen Meilen nach Toulouse.
Abram und Miriam verließen ihr Zelt während der Nacht und schauten in den klaren Sternenhimmel. Miriam holte ihr Astrolabium heraus und begann mit der Sternbeobachtung.
»Und?«, fragte Abram. »Was siehst du?«
»Eine Belagerung«, bemerkte Miriam. »Ich muss mir nur noch die richtigen Sternkonstellationen dazu ausdenken. Aber ich hab’s gestern noch mit deinem Oheim besprochen – es wird zu einer dritten Belagerung von Toulouse kommen.«
Abram runzelte die Stirn. »Aber warum sollte Montfort erst aufgeben und dann wieder zurückkommen?«
»Um sein Gesicht zu wahren. Das Volk wollte partout seinen Grafen zurück – und die Niederschlagung eines Aufstands hat sich Montfort wohl nicht zugetraut. Stattdessen verursacht er jetzt erst mal wieder ein bisschen verbrannte Erde – und schürt damit Unmut gegen den Grafen. Die Bevölkerung hat doch gedacht, der würde sie jetzt wieder beschützen. Aber was macht er? Hält Hof in Toulouse. Die Begeisterung
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