Das Erbe der Pilgerin
jetzt lag Sophias einzige Hoffnung in rascher Flucht. In dem sanften Gang, der der Zelterin zu eigen war, würde sie Mathieu nie entkommen.
Die junge Fränkin achtete nicht darauf, dass ihre Röcke hochrutschten, sondern stieß Grandezza die Fersen in die Flanken. Auf die Reaktion der Stute war sie allerdings nicht vorbereitet! Das hochsensible Pferd war offensichtlich weder an den Herrensitz noch an derart rüde Hilfengebung gewöhnt. Grandezza stob davon wie von Furien gehetzt. Sophia klammerte sich verzweifelt an ihre Mähne, aber immerhin schien sie dem Ritter zu entkommen. Oder doch nicht? Entsetzt hörte das junge Mädchen Hufschläge hinter sich, und dann sah es auch den Schimmelhengst – mit verwaistem Sattel. Er musste sich losgerissen haben und setzte jetzt ihrer Stute nach.
Sophia empfand zunächst Erleichterung. Aber dann bemerkte sie, dass Grandezza panisch vor dem Schimmel floh, nur dass die kleine Stute sehr wenig Chancen hatte. Der Hengst holte immer mehr auf. Würde er gleich anfangen, nach Grandezza zu beißen und sie zu treiben? Sophia hatte schon Pferde beim Liebesspiel gesehen. Es konnte Stunden dauern, bis die Stute schließlich für den Hengst stand – oder der Hengst einsah, dass sie einfach noch nicht rossig war und den Deckakt folglich aufschob.
Grandezza wollte erkennbar nichts mit dem Schimmel zu tun haben und rannte in wilder Flucht durch den Wald. Die lichten Wege wichen völliger Wildnis. Es gab nur noch schmale, überwucherte Pfade und irgendwann nicht einmal mehr die. Die Zelterin floh mit großen Sprüngen durchs Unterholz, während Sophia sich verzweifelt an den Zügeln festklammerte. Der Schmerz in seinem Maul schien das Pferd allenfalls noch schneller zu machen. Und dann galoppierte es direkt auf einen Baum zu. Sophia sah einen starken Ast auf sich zukommen, versuchte, sich zu ducken … aber es war zu spät. Sie spürte einen Aufprall und vage Angst, als sie fiel. Wenn der Hengst sie nun trat …
Das Letzte, was Sophia erkannte, war der gewaltige Körper des Schimmels, der auf sie zu- und mit einem riesigen Satz über sie hinwegflog. Dann spürte sie nichts mehr.
Kapitel 6
G erlin, eben kam ein Bote aus dem Grenzwald.«
Florís de Loches betrat das Torhaus, in dem Gerlin gerade die Eingänge notierte. Schon seit Tagen fuhren schwere Erntewagen auf den Hof der Burg, die Bauern zahlten ihre Abgaben an den Burgherrn, der sie dafür vor Angreifern schützte. In diesem Jahr war es besonders viel, die Ernte war hervorragend ausgefallen, und Gerlin und Florís hatten niemandem die Abgaben stunden oder ganz erlassen müssen. Gerlin lächelte ihrem Mann über den Haushaltsbüchern zu. Ein gutes Jahr … aber Florís wirkte besorgt. Gerlin ließ die Feder sinken.
»Und?«, fragte sie. »Was gibt es?«
»Es sind Ritter im Anmarsch, sagte der Bursche. Und man erkannte die Farben deines Bruders Rüdiger.«
Gerlin strahlte. »Rüdiger! Und Dietmar! Endlich sehe ich ihn wieder! Wir müssen alles vorbereiten, wir …«
»Gerlin …«, Florís schluckte, »sie erkannten nur das Banner deines Bruders. Nicht das deines Sohnes. Dietmar … Dietmar ist nicht bei diesen Rittern.«
Gerlins Miene verdunkelte sich sofort. Sie wusste, was das bedeuten konnte. »Aber … aber … hätte der König … hätte man uns nicht mitgeteilt, wenn …«
Florís legte den Arm um sie. »Vielleicht lässt man es uns hiermit wissen. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn mit Rüdiger ein Mitglied der Familie eine schlechte Nachricht überbrächte.«
Gerlin stand auf. Sie rieb sich die Schläfe. »Er ist noch so jung …«, flüsterte sie. »Kaum älter, als sein Vater war. Er kann nicht …«
»Es ist ja nicht sicher, Gerlin«, sagte Florís sanft. »Ich sage es dir nur, damit du … damit du darauf vorbereitet bist. Es hat eine Schlacht gegeben dort in Flandern, das weißt du. Und nicht jeder Ritter kehrt siegreich heim.«
»Aber Rüdiger wollte auf ihn aufpassen, er wollte auf ihn achten …« Gerlins Stimme klang tonlos. Sie schwankte und lehnte sich an Florís. Sie wollte ihm jetzt so nahe sein, wie es nur eben möglich war. »Wenn er gefallen ist … Dann war alles umsonst …«
Florís zog sie an sich. »Niemand kann in der Schlacht auf einen anderen aufpassen. Man achtet da auf sich selbst, sonst ist man verloren. Aber nun … Gerlin, wir werden Rüdiger gefasst und stolz entgegentreten. Ich bin sicher, dass dein Bruder sein Bestes getan hat. Und wenn Dietmar gefallen ist – dann sicher tapfer
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