Das Erbe der Pilgerin
Sophia setzte heute ihren Ehrgeiz darein, ihr Falkenweibchen allein zu betreuen. Sie hatte das Tier in den letzten Wochen auf sich geprägt und war unbändig stolz, als sie es jetzt losband und die Haube abnahm. Der Vogel schwang sich sofort auf, um brav hoch in der Luft über Sophia zu verharren.
Sophia folgte nun einem der Hunde – die Gräfin hielt sich etliche Vorstehhunde zur Beizjagd, und mit einem Breton hatte Sophia besondere Freundschaft geschlossen. Allerdings brauchte das Tier an diesem Tag etwas länger, um ein Rebhuhn oder einen Fasan zu finden, Sophias Geduld wurde auf die Probe gestellt. Aber dann hob der Hund doch die Pfote und zeigte an, dass sich ein Vogel auf einer Lichtung versteckt hielt. Sophia reagierte blitzschnell. Sie gab dem Hund den Befehl, den Vogel aufzuscheuchen, und im selben Moment stieß der Falke wie ein Pfeil auf das Wild herab. Sophia zückte aufgeregt ihr Federspiel. Jetzt wurde es aufregend! Würde der Falke zu ihr zurückkehren? Nervös beobachtete sie, wie er sich, die Beute im Schnabel, zurück in die Lüfte schwang. Sophia hätte jubeln mögen, als ihr Falkenweibchen kurze Zeit später mit elegantem Schwung Platz auf ihrem Handschuh nahm und freudig abwartete, bis sie es kröpfte. Der Hund hatte sich inzwischen schwanzwedelnd genähert, und Sophia sah nach einem Jagdgehilfen aus, der ihr die Beute abnehmen konnte.
Sie erschrak zu Tode, als sie sich ganz allein auf der Lichtung fand. Und nun wurde auch Grandezza wieder unruhig. Sophia wusste, dass sie es nie schaffen würde, das prächtige Rebhuhn, das ihr Falke geschlagen hatte, vom Pferd aus am Sattel zu befestigen. Allerdings lagen etliche umgestürzte Bäume auf der Lichtung. Sie konnte absteigen, den Hund ein bisschen streicheln und belohnen – und dann einen Baumstamm als Aufstiegshilfe benutzen, um wieder in den Sattel zu kommen. Sophia ließ sich also vom Pferd gleiten – und war eben damit beschäftigt, ihr Rebhuhn am Sattel festzubinden, als sie Hufschläge hörte. Erschrocken sah sie sich um – der Schimmel Mathieus.
Der Ritter applaudierte ihr lachend. »Kompliment, Herrin, eine gute Jagd! Ein trefflicher Falke, eine beherzte Jägerin. Artemis – nannten die Griechen nicht so die Göttin der Jagd?« Mathieu stieg seinerseits ab und näherte sich Sophia.
Das Mädchen erstarrte sofort. »Artemis war … Jungfrau …«, stieß sie hervor.
Mathieu nickte. »Nun, das hoffe ich doch auch von Euch, meine Herrin. Die Hohe Minne … es läge mir fern, Euch vor der Hochzeit zu nahezutreten. Aber ein kleiner Kuss …«
Er trat zu ihr heran. Sophia wich zurück, ihr Pferd am Zügel. Grandezza folgte ihr willig, ihr schien der Schimmel so wenig geheuer wie Sophia sein Herr.
»Man findet selten eine Schönheit wie Euch, meine Dame«, schmeichelte Mathieu mit heiserer Stimme. »Natürlich preisen wir alle Edelfräulein als schön – aber in Wahrheit … so mancher von ihnen würde man keinen zweiten Blick gönnen, trüge sie die Tracht einer Bäuerin oder einer Ordensfrau. Ihr dagegen … Ihr strahlt ein Leuchten aus – um Euch zu erobern würde ich ein Dorf niederbrennen oder ein Kloster schänden.«
Sophia wusste, dass sie Mathieu jetzt vorhalten sollte, die Hohe Minne sähe im Rahmen der Brautwerbung weder Brandschatzung noch Klosterschändung vor, aber sie brachte kein Wort mehr heraus. Ihr Instinkt riet zur Erstarrung, ihr Verstand zur Flucht. Dieser Mann würde sich nicht darauf beschränken, sie zu küssen. Wenn er sie erst gefasst hatte, würden alle Dämme brechen …
Sophia sah verängstigt um sich. Ihr Pferd war bei ihr – und nur wenige Schritte hinter ihr lag einer der Baumstämme. Wenn sie dort nur kurz verhielt … Mit einer raschen Bewegung, als schleudere sie das Federspiel, warf sie dem Ritter das tote Rebhuhn ins Gesicht – und löste damit Ungeahntes aus. Der Hund der Gräfin jaulte auf und stürzte sich gleich kläffend auf Mathieu – und das Falkenweibchen, dem Sophia die Haube noch nicht wieder aufgesetzt hatte, stieß erneut vor, um das scheinbar wieder zum Leben erwachte Rebhuhn zu schlagen.
Der Ritter konnte sich der Tiere kaum erwehren – und Sophia nutzte ihre Chance. Sie zerrte Grandezza zu dem Baumstamm, kletterte darauf und schwang sich dann rittlings auf den Rücken ihres Pferdes. Sophia war noch nie im Herrensitz geritten, aber sie wusste, dass sowohl die Gräfin als auch Geneviève es gelegentlich taten – es bot bei schnelleren Gangarten einfach den sichereren Halt, und
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