Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
gewaltigen Felsen, die hier wie von der Hand eines Riesen wahllos verstreut herumlagen. Er kannte sich mit Falken nicht besonders aus, wusste aber, was das Auftauchen des stolzen Vogels zu bedeuten hatte. Falken hatten scharfe Augen, denen nichts entging. Augen, mit deren Hilfe die Kundschafter sehen konnten, was sonst unbemerkt blieb. Der Wanderer wollte jedoch auf keinen Fall gesehen werden. Angespannt verfolgte er aus der Deckung heraus den Flug des Falken, der in gerader Linie nach Westen zog, und atmete auf. Das Glück war auf seiner Seite, der Vogel hatte ihn nicht bemerkt. Dennoch wartete er, bis die Umrisse des Falken vor dem Hintergrund der untergehenden Sonne nicht mehr zu sehen waren, bevor er seinen Weg fortsetzte. Jene, denen er folgte, waren ein Stück weit voraus, doch die Felsen und Hügel boten ihm nur wenig Schutz, und er musste auf der Hut sein. Ein unbedachter Schritt mochte ausreichen, um all seine Pläne zunichte zu machen.
Stimmen weckten Faizah nach schier endloser Fahrt aus einem unruhigen Schlummer. Die stickige Luft und das unregelmäßige Rumpeln der Räder hatten sie schläfrig gemacht, und obwohl sie mit allen Mitteln dagegen angekämpft hatte, war sie immer wieder eingenickt.
Nun spürte sie, dass der Wagen hielt. Vorsichtig schob sie die Decken zur Seite, die sie sich über den Kopf gezogen hatte, und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das durch die Ritzen ins Innere der Kiste fiel.
Draußen hörte sie Schritte und Stimmen. Wortfetzen und Sätze vereinigten sich zu einem bunten Stimmgewirr, das darauf schließen ließ, dass viele, sehr viele Uzoma in der Nähe waren.
Faizah fluchte leise vor sich hin. Sie brannte darauf, das enge und stickige Gefängnis zu verlassen, doch an eine Flucht war nicht zu denken.
»Los, weiter, weiter!« Die schneidende Stimme eines Uzomakriegers ertönte unmittelbar neben ihrem Kopf Faizah zuckte erschrocken zusammen. Ihr Herz hämmerte wie wild. Furchtsam hielt sie den Atem an und lauschte. »Ajat, ajat!« Der Krieger hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Das verhasste Geräusch einer Peitsche auf nacktem Fleisch und der Schrei einer Frau drangen ihr an die Ohren.
»Schneller!«, hörte sie den Krieger ungehalten brüllen. »Die Wagen müssen noch heute Nacht zurück. Wenn der Angriff euretwegen verschoben wird, landen eure elenden Knochen auf den Opferaltären.«
Die Schritte kamen und gingen, eilten herbei und schlurften davon, und dazwischen ertönten immer wieder schabende Geräusche, als würden die Tonkrüge hin und her geschoben. Der Wagen schwankte, und die unerträgliche Hitze in der Kiste schwächte sich langsam ab.
Sie laden ab, dachte Faizah und überlegte, was wohl danach geschehen mochte. Den Worten des Kriegers zufolge sollten die Karren gleich wieder zurück zum Wehlfang fahren, doch zuvor … Ein eiserner Ring schien sich um Faizahs Brust zu legen. Zuvor würden sie gewiss noch Proviant auffüllen.
Ich muss hier raus!
Sie presste das Gesicht dicht an einen Spalt und versuchte zu erkennen, was draußen vor sich ging. Ein Krieger mit einer dreischwänzigen Peitsche in der Hand beaufsichtigte eine Gruppe zerlumpter Kurvasa , welche die Töpfe mit dem flüssigen Feuer zu einem nahen Felsplateau schleppten. Rücksichtslos schwang er die Peitsche. Wer zu langsam war, wurde Opfer seiner Willkür, aber auch jene, die sich redlich mühten, blieben nicht verschont. Eine junge Frau huschte heran. In Erwartung eines Schlages hielt sie den Kopf gesenkt und duckte sich unterwürfig, während sie an den Wagen trat, um einen weiteren Topf abzuladen. »Schneller!« Mit einem zischenden Geräusch fuhr die Peitsche auf sie herab und hinterließ blutige Striemen auf ihrem Arm. Faizah sah, wie sie vor Schmerz zusammenzuckte, doch sie sah noch etwas anderes: den auflodernden Hass in ihren Augen, jenen unbeugsamen, entschlossenen Hass, den auch sie am Abend zuvor verspürt hatte.
Die junge Frau wirkte plötzlich ganz ruhig. Als hätte sie den Schmerz nicht gefühlt, zog sie den Tontopf zu sich heran und hob ihn vom Wagen. Zunächst sah es so aus, als wollte sie ihn zu den anderen tragen, doch als sie an dem Krieger vorbeiging, stieß sie ihn urplötzlich in dessen Richtung. Der Inhalt ergoss sich über den Uzoma, und eine gewaltige Stichflamme schoss fauchend in die Höhe.
Faizah spürte die Gluthitze der Flammen unmittelbar neben ihrem Versteck. Sie hörte die Frau und den Krieger aufschreien und sah, wie das flüssige Feuer beide
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