Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
nur in die Nähe der Artasensümpfe kämt.«
»Ihr … Ihr meint, ich soll allein reiten?« Ajana wich erschrocken zurück. Die Vorstellung, den weiten und gefährlichen Ritt allein zu bewältigen, machte ihr Angst. »Das schaffe ich nicht«, presste sie entmutigt hervor und beeilte sich zu erklären: »Ich kenne die Wüste nicht, jedenfalls nicht viel davon. Ich werde sterben, noch ehe ich die Grenzen Andauriens erreiche.«
»Es spricht nichts dagegen, einen Kundschafter mitzunehmen.« Asza lächelte viel sagend.
»Keelin!« Ajanas Miene hellte sich auf. Wenn Keelin sie begleiten würde, wäre alles viel einfacher. Unter Horus’ Führung würden sie die Wüste schnell durchqueren und auch den Hellgarnbaum alsbald finden können.
Doch dann kamen ihr Zweifel. Am Abend waren sie im Streit auseinander gegangen; sie konnte sich nicht mehr sicher sein, ob er sie begleiten würde.
Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Sie musste mit Keelin sprechen. Jetzt und sofort. Die Zeit lief ihr davon, und ehe sie aufbrechen konnte, gab es noch viel zu tun.
»Ich danke Euch«, sagte sie aus ganzem Herzen. »Am Fluss der Seelen habt Ihr mir das Leben gerettet, und nun gebt Ihr mir die Hoffnung zurück. Ich weiß gar nicht, wie ich Euch das danken kann.«
Asza lächelte geheimnisvoll, ging aber nicht weiter darauf ein. »Du musst dich beeilen«, sagte sie mit sanftem Drängen. »Die Zeit ist von nun an dein größter Feind – vergiss das nicht. Möge die Magie der Runen dich schützen und dir die Kraft geben, auch diese letzte Prüfung zu bestehen.«
»Keine Sorge, das werde ich nicht vergessen.« Ajana war schon auf dem Weg zu ihrer Stute. In Gedanken ging sie alles durch, was vor dem Aufbruch noch zu tun war. Dutzende mehr oder weniger bedeutsame Dinge gingen ihr durch den Kopf. Und während sie sich auf den Rücken des Pferdes schwang, war sie bereits dabei, das eine oder andere zu verwerfen.
***
»Ein Altar für Callugar. So, so.« Der Wanderer löste sich aus dem Schatten des Ulvars, trat neben Asza und blickte Ajana nach, die über die Hügel zum fernen Waldrand galoppierte. »Warum habt Ihr ihr nicht die Wahrheit gesagt?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Um sie zu ängstigen?« Asza schüttelte den Kopf. »Dann wäre sie niemals gegangen.«
»Um sie zu warnen.« Ein leichter Tadel schwang in der Stimme des Mannes mit. »Sie vertraut Euch.«
»Und ich vertraue ihr«, erwiderte Asza ungerührt. »Sie ist unsere letzte Hoffnung; wenn sie versagt, haben wir verloren.«
***
Ajana war nirgends zu finden. Nicht in ihrem Gemach, nicht bei Inahwen und auch nicht in einem der »Stillen Räume«, jenen Gemächern, in denen die Schreiber des Hohen Rates arbeiteten und in die sich Ajana hin und wieder zurückzog, um die Chronik Nymaths zu studieren.
Weder die Elbin noch jeder andere, den Keelin nach Ajana fragte, hatten sie an diesem Morgen gesehen. Alle wohlgemeinten Vermutungen über ihren Verbleib brachten ihn bei seiner Suche nicht weiter, ebenso wenig wie der Besuch bei den Heilerinnen.
Mit raschen Schritten eilte er durch die Gänge der Bastei die Treppe hinab und über den Hofplatz auf die Stallungen zu.
Der Morgen war freundlich heraufgezogen. Anders als am Vortag schien die Sonne von einem frühlingsblauen Himmel. Unter der Wärme schwanden die letzten Pfützen auf dem Boden schnell dahin. Die Luft war erfüllt vom Rauschen der Brandung und dem Duft des Meeres, den ein frischer Wind von der nahen Küste herantrug, während die Stallburschen, Krieger und Bediensteten der Bastei allerorten geschäftig ihrer Arbeit nachgingen. Sie lachten und scherzten, und es hatte fast den Anschein, als sei die Geißel des Winters nun endgültig von Nymath genommen worden.
Neben dem großen Tor der Stallungen traf Keelin auf Abbas. Der junge Wunand war gerade dabei, sein Pferd für einen Botenritt zu satteln, wie immer allein.
Die Männer vom Blute der Wunand durften keine Waffen führen. Dass sich Abbas eigenmächtig darüber hinweggesetzt hatte, war bei den Wunandamazonen im Heer der Vereinigten Stämme auf wenig Verständnis gestoßen. Obwohl er ihnen an Mut und Geschick in nichts nachstand, mieden sie ihn wie einen Aussätzigen. Mit den Kriegern der Raiden, Onur, Fath und Katauren verhielt es sich ähnlich. Für sie galten die Männer der Wunand durchweg als Schwächlinge, da sie sich von den Frauen bervormunden ließen. Dass Abbas für seinen Mut und seine Verdienste im Kampf gegen die Uzoma eine hohe
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