Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
konnte.
»Du musst dich sammeln und dich ganz in den Stein vertiefen.« Diesmal sprach die Elbin, die Faizah erstmals an dem unterirdischen Weiher begegnet war. »In seinem Innern wirst du einen großen Schmerz und die ungestillte Sehnsucht nach der verlorenen Hälfte finden. Nimm die Sehnsucht in dich auf, als sei sie dein Eigen, und stelle in Gedanken immer wieder die eine Frage: Wo bist du?«
Eine Weile herrschte Schweigen.
Vorsichtig tastete sich Faizah in der Finsternis der Höhle voran, um zu sehen, wo die beiden waren, konnte aber wieder nur die Leuchtkörbe in der Nähe des Höhleneingangs sehen. Weiter einzutreten wagte sie nicht, da sie fürchtete, dass man sie entdeckte.
»Du hast es schon einmal vollbracht«, hörte sie die Elbin in diesem Augenblick voller Zuversicht sagen. »Du wirst auch diesmal nicht scheitern. Doch für heute soll es genug sein. Lass uns wieder zu den anderen gehen, etwas essen und ein wenig ausruhen.« Stoff raschelte, und für den Bruchteil eines Augenblicks schlüpfte der Lichtschein eines Leuchtkorbs in den Tunnel hinein.
Faizah presste sich erschrocken an die Wand und hielt den Atem an, doch die beiden Frauen bemerkten sie nicht. An den Schatten erkannte Faizah, dass Ajana und die Elbin zurück in die Höhle und auf eine Stelle zugingen, an der fünf dunkle Gestalten um eine Gruppe von Feuerkörben versammelt saßen. Ein paar Schritte davon entfernt standen weitere vier Feuerkörbe beieinander. Faizah spürte, wie ihr Herz vor Aufregung heftig zu pochen begann. Das konnten nur die Stammesfürsten und ihr Wegfinder sein … Endlich!
Der Anblick ließ Faizah Hunger und Müdigkeit vergessen. Die Höhle war groß, und anders als auf dem schmalen Weg in den Bergen, bot sich ihr hier genügend Raum und Deckung, um sich unbemerkt an der Gruppe um Ajana vorbeizuschleichen und blutige Rache zu nehmen. Diesmal schien das Glück auf ihrer Seite zu sein, und Faizah war entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen.
Der Weg war beschwerlich.
Die Magun hatte es bereits geahnt.
Lange vor dem ersten Grau des Morgens hatte sie die verbrannte Stätte verlassen, die ihr einst Geborgenheit und Schutz verheißen hatte. Seitdem war sie unermüdlich gewandert. Durch schattige Schluchten und tief verschneite Wälder, über gewaltige Schneewehen und zugefrorene Seen hinweg. An froststarren Bächen entlang, unter deren klarer Eisdecke noch das Wasser floss, und vorbei an den bizarren Formationen erstarrter Wasserfälle, die sich von den Höhen des Pandaras zu Hunderten in die Schluchten ergossen. Irgendwann hatte sie die letzten Bäume hinter sich gelassen und war auf die vom Wind glatt gefegten Schneeflächen hinausgetreten, die Felsen, Gräser und die niedrigen Gewächse des Hochgebirges gleichermaßen bedeckten.
Auch hier gab es nichts, nach dem sie sich hätte richten können; keine Wegmarkierung und kein Stern am Himmel. Aber sie schritt weiter aus, ohne zu zögern, das Ziel fest vor Augen. Sie war schon einmal dort gewesen. Lange bevor sie dem Wanderer dorthin gefolgt war. Das spürte sie. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, sich jene Zeit ins Gedächtnis zu rufen, glitten ihre Gedanken in eine dunkle Leere, die sich dort auftat, wo die Erinnerungen hätten sein müssen.
Hatte sie vergessen?
Undenkbar!
Gestohlene Erinnerungen!
Dieser Gedanke kam ihr so unerwartet, dass sie selbst erschrak. Hatte sie wirklich erst so alt werden müssen, um diese Lücke in ihren Erinnerungen aufzuspüren? Warum hatte sie vorher nicht bemerkt, dass ihr Erinnerungen fehlten? Erinnerungen, die weit über den Zeitpunkt hinausreichten, an dem ihre Geschichte begann, vor der Flucht aus Andaurien und noch weiter zurück. Sie war überzeugt, dass sie diese Erinnerungen einst besessen hatte, aber sie waren wie ausgelöscht. Die Magun legte die Stirn nachdenklich in Falten.
War es nicht auch möglich, dass es diese Lücke schon immer gegeben hatte? Unbeachtet von ihr und verschüttet von den unzähligen Eindrücken und Bildern, die der Lauf des unnatürlich langen Lebens bei ihr hinterlassen hatte? Sie nickte sinnend. Ja, das musste die Erklärung sein.
Dennoch, ein leiser Zweifel blieb und nährte hartnäckig das Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein. Um etwas Bedeutsames, das sie bisher zwar nicht vermisst hatte, das aber ihr Wesen und ihr Schicksal von Anfang an mitbestimmt hatte und ihr nun so schmerzlich fehlte – die Erinnerung an das, was vorher war.
Die alte Frau strich sich eine graue
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