Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
rote Kilvarbeerensaft könne ihr Gewand beschmutzen, gewährte der Fliege noch eine kurze Gnadenfrist, doch Vhara ließ sie nicht aus den Augen.
Wenige Herzschläge später war es soweit. Gesättigt putzte die Fliege ihre Flügel und setzte zum Abflug an. Doch der Versuch scheiterte kläglich. Der gegorene Fruchtsaft aus der überreifen Beere hatte sie trunken gemacht, und so stürzte sie nach ein paar hilflosen Flügelschlägen eine knappe Armeslänge vor Vhara auf die hölzerne Tischplatte.
Hilflos auf dem Rücken liegend, drehte sie sich summend um die eigene Achse, bis das zusammengerollte Pergament klatschend auf sie niederfuhr.
Das Summen erstarb.
»Na also!« Zufrieden betrachtete Vhara zunächst den kleinen roten Fleck, der sich auf dem Pergament abzeichnete, und dann den leblosen Körper der Fliege. Der Hinterleib war zerschmettert. Zwei der vier Flügel standen in einem unnatürlichen Winkel von dem dunklen Körper ab.
»Zerstört durch einen einzigen Handstreich.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Wie meine Pläne.« Sie schnaubte verächtlich. »Mit einem einzigen, lächerlichen Zauber ist es diesem schändlichen Elbenspross gelungen, all meine Pläne zu durchkreuzen.« Sie ballte die Hand zur Faust, zerdrückte das aufgerollte Pergament und fixierte die Fliege, als trüge das Insekt eine Mitschuld an der erlittenen Niederlage. »Aber nicht mit mir«, zischte sie bösartig, und die Worte kamen ihr wie ein unheilvoller Schwur über die Lippen. »Nicht mit mir! Die Ungläubigen werden sich noch wundern. Sie und diese … diese Nebelsängerin.« Ganz unvermittelt schlug sie mit der Faust so heftig auf die Tischplatte, dass die Fliege einen Satz machte und wieder auf den Beinen landete. »Diese Frevler ahnen nicht, was sie mit ihrer List heraufbeschworen haben. Sie haben …«
Eine winzige Bewegung lenkte Vharas Aufmerksamkeit wieder auf die Tischplatte. Die Fliege hätte tot sein müssen, doch die verdrehten Flügelpaare zuckten und bewegten sich langsam wieder an den rechten Platz. Noch ehe Vhara ein weiteres Mal nach dem Insekt schlagen konnte, erhob es sich summend in die Lüfte, schwirrte eine Runde durch das Gemach und schlüpfte durch einen Spalt in den geflochtenen Schilfmatten, die die Fenster des Nachts verschlossen, nach draußen.
»Verdammtes Geschmeiß!«, ereiferte sich Vhara und sprang auf. »Was fällt dir ein, so einfach davonzufliegen? Ich hatte dich besiegt! Besiegt!« Sie stutzte und fing dann laut an zu lachen. »Besiegt!«, stieß sie kopfschüttelnd hervor, als sei dies ein besonders gelungener Scherz, und ließ sich wieder in den Stuhl zurückfallen. »O ja, ich dachte wirklich, ich hätte dich besiegt.«
Das Lachen wich aus ihrem Gesicht, und eine unheilvolle Kälte lag in ihrer Stimme, als sie die Fassung wiederfand. »Auch die Vereinigten Stämme Nymaths wähnen sich siegreich. – Diese Narren. Aber sie werden sich noch wundern. ›Ein Sieg ist erst dann gewiss, wenn der Unterlegene seine Niederlage eingesteht‹«, zitierte sie mit fester Stimme eine alte andaurische Weisheit und fügte trotzig hinzu: »Und einen Sieg kann nur davontragen, wer sich den Feind Untertan macht. Ich bin niemandes Untertan – und ich bin noch lange nicht besiegt!«
Wasser benässte Mayleas Lippen.
Ihr Mund öffnete sich wie von selbst. Gierig hob sie den Kopf, um noch mehr davon zu bekommen. »Nicht so hastig!«, hörte sie eine Frauenstimme sagen. Eine Hand legte sich auf ihre Stirn und hielt sie sanft, aber bestimmt zurück: »Du musst langsam trinken.«
Aber Maylea trank nicht langsam. Zu lange hatte sie gedürstet, zu viel erlitten und zu oft erfahren, wie kostbar und selten Wasser war. Sie verschluckte sich, hustete, würgte und erbrach einen Teil der Flüssigkeit über ihr Gewand.
»Beim schwarzen Mond, ich habe es geahnt!« Plötzlich waren die Hand und das Wasser fort, und Maylea spürte, wie die Frau sich erhob. Hustend rollte sie sich auf die Seite und krümmte sich zusammen, während sie darauf wartete, dass der Anfall vorüberging. Als die Übelkeit nachließ, öffnete Maylea die Augen. Die aufgehende Sonne stand noch weit im Osten. Das gleißende Licht brach sich auf dem hellen Steppenboden und blendete sie. Maylea stöhnte auf und legte schützend den Arm über die Stirn. Die ungewohnte Helligkeit bereitete ihr heftige Kopfschmerzen, doch die wärmenden Strahlen vertrieben auch die nächtliche Kälte aus ihren Gliedern, und so hieß sie das Licht
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