Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
willkommen.
Bin ich tot?
Für den Bruchteil eines Augenblicks flammte der Gedanke hinter ihrer Stirn auf. Doch dann erinnerte sie sich, was die Legende sagte: »In Emos Reich gibt es weder Schmerz noch Pein.«
Also lebe ich.
Maylea war sich nicht sicher, ob sie erleichtert sein sollte. In ihrem Körper schien es keine Stelle zu geben, die nicht schmerzte, auf ihrer Haut keinen Flecken, der nicht von getrocknetem Blut verkrustet war. Hunger und Durst wüteten in ihren Eingeweiden, und sie fühlte sich so kraftlos wie nach einem Viertelmond fiebrigen Siechtums. Ihr Arm …
Maylea stutzte.
Ihr gebrochener Arm schmerzte längst nicht mehr so sehr, wie sie es in Erinnerung hatte. Alles, was sie spürte, war ein heftiges Pochen. Prüfend hob sie den Arm und erkannte zu ihrem Erstaunen, dass er geschient und verbunden war. Auch ihr rechter Arm, in den sich der Dunkelschleicher verbissen hatte, war in einen sauberen Verband aus hellem Tuch gehüllt.
»Fühlst du dich besser?« Die Frau war noch immer da. Maylea hörte sie näher kommen. Für den Bruchteil eines Augenblicks blitzte der Gedanke hinter ihrer Stirn auf, dass es sich bei ihr vielleicht doch um Emo oder eine ihrer heiligen Schwestern handeln könnte. Doch die kleinwüchsige Frau mit der eigentümlichen Haartracht und den kupfermondfarbenen Augen, die sich kurz darauf über sie beugte, hatte nichts mit der wilden Jägerin gemein. Sie war noch sehr jung und trug schlichte, helle Kleidung mit einem gegürteten Obergewand. Prächtige, weiche Federn von der Farbe des Himmels schmückten ihr schwarzes Haar.
»Wer bist du?«, fragte Maylea verwirrt.
»Ich bin Oona.«
»Oona?« Unbeholfen versuchte Maylea sich zum Sitzen aufzurichten. Doch die Bewegung brachte ihr zu den Kopfschmerzen auch noch ein heftiges Schwindelgefühl ein. »Emos zornige Kinder«, brummte sie und verzog das Gesicht.
»Verzeih.« Oona half Maylea, sich aufzusetzen. Sie wirkte ehrlich betroffen. »Es lag nicht in unserer Absicht, dir Schmerzen zuzufügen. Aber die Gynt waren überall, und wir mussten …«
»Die Gynt?« Maylea krauste nachdenklich die Stirn. »Du meinst die Dunkelschleicher?«
»Ich meine die Jäger, deren Beute du fast geworden wärst.« Oona reichte Maylea noch einmal den Wasserschlauch, den sie dankbar annahm. Diesmal trank sie besonnen in kleinen, gleichmäßigen Schlucken. Anschließend ließ sie sich einen Teil des kühlen Nasses über das Gesicht laufen und gab Oona den leeren Lederschlauch zurück. »Wo sind wir?«
»Etwa einen Tagesritt nördlich des Pandarasgebirges«, erklärte Oona und deutete nach Westen. »Einen Tagesritt in dieser Richtung liegt der Wehlfang-Graben.«
So weit im Westen? Maylea stutzte und überlegte, wie sie hierher gekommen sein mochte. Verworrene Bilder, nicht mehr als Bruchstücke von Erinnerungen, blitzten in ihren Gedanken auf Bilder von Orten, die keinen Namen hatten, an denen sie aber gewesen sein musste. Bilder von Ereignissen, die sie erlebt hatte und die doch keine Bedeutung zu haben schienen. Und Gesichter von Menschen, die sie zu kennen glaubte, deren Namen sie aber vergessen hatte. Was war geschehen?
Mit aller Kraft versuchte Maylea sich ins Gedächtnis zu rufen, wie sie – vor dem Angriff des Dunkelschleichers – zu dem gebrochenen Arm und den vielen Wunden gekommen sein mochte.
Ich muss mich erinnern!
Es hatte einen Kampf gegeben. Und einen Ritt voller Schmerzen. Man hatte sie verschleppt und geschlagen. Dann war sie in einer stinkenden Zelle erwacht …
Die Erinnerungen an entsetzliche Folter und unsägliche Schmerzen streiften Mayleas Gedanken. Erinnerungen an unbarmherzige Uzomakrieger und an eine hellhäutige Frau von unvorstellbarer Schönheit und ebensolcher Grausamkeit.
… Irgendwann war Abbas dort aufgetaucht.
Abbas!
Der Gedanke an den jungen Mann ihres Blutes versetzte Maylea einen schmerzhaften Stich.
Abbas hatte sie befreit.
Er hatte gekämpft – und sie?
Ein tiefes Schamgefühl stieg in Maylea auf.
Sie war geflohen, durch die heiße Steppe, immer weiter, bis sie schließlich nicht mehr konnte …
Sie hatte ihn feige zurückgelassen!
Wieder tauchte das Bild des bleichen, grinsenden Pferdeschädels vor ihrem geistigen Auge auf.
Der Schädel! Maylea blickte sich um, konnte das Skelett aber nirgends entdecken.
»Wonach suchst du?« Oona war Mayleas suchender Blick nicht entgangen.
»Einen Pferdeschädel«, gab Maylea zur Antwort. »Er ist nicht mehr da.« Oona zog erstaunt eine Augenbraue in die
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