Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
über das schnelle Tempo, mit dem Marco den Wagen trotz des schlechten Wetters steuerte. Sie hatte begriffen, dass die dunklen Wolken aufgezogen waren – und das nicht nur über der Landschaft.
Geräuschvoll kam das Auto vor dem schmiedeeisernen Tor einer Villa zum Halten. Auf einer Tafel war der Name des Anwesens genannt. Durch den Regenvorhang hindurch versuchte Cari ihn zu entziffern. »La Sirena« , murmelte sie.
»Die Meerjungfrau«, übersetzte er.
»Wo sind wir?«, fragte Cari, obwohl sie es bereits wusste.
»Ich hole dich in zwei Stunden wieder ab.« Er hatte die Sonnenbrille abgenommen, doch seine dunklen Augen verrieten nichts.
»In Ordnung.« Nie zuvor in ihrem Leben war Cari so nervös gewesen. Sie stieg langsam aus dem Auto. Es regnete immer noch, aber sie nahm kaum Notiz davon. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie erwarten würde. Sie hoffte und wagte gleichzeitig kaum zu hoffen.
»Ciao.« Marco hob die Hand, winkte und preschte davon.
Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ihm einer entgegenkäme.
»Ciao« , flüsterte sie und öffnete das Tor.
Aurelia fluchte, als ein roter Maserati sie vor einer Kurve überholte. Nie im Leben würde sie sich an die italienischen Autofahrer gewöhnen. Lauter Wahnsinnige auf der Straße – zu schnell, zu ungeduldig und eindeutig zu ichbezogen. Hatte man Pech und musste an einer Ampel anhalten – was ihr schon des Öfteren passiert war –, äußerte die gesamte Schlange (und es entstand immer eine Schlange) hinter ihr unüberhörbar Missfallen. Nun war der Himmel bedeckt, Regen sammelte sich auf der Fahrbahn und klatschte gegen die Windschutzscheibe. Sie würde ihren Fahrstil niemals dem der Italiener angleichen.
Weshalb sollte sie auch wie die Italiener fahren – schließlich strömte nicht ein Tropfen italienisches Blut durch ihre Adern. Sie mochte hier leben, aber das hieß nicht, dass sie alles so machte wie die Einheimischen – einschließlich Autofahren –, zumal sie immer noch als Fremde galt.
Vorsichtig nahm Aurelia die nächste Kurve – für den Fall, dass wieder so ein verrückter Maseratifahrer an ihr vorbeirasen wollte. Doch es ging gut. Und der Wagen, der sie überholt hatte, war längst außer Sicht. Vermutlich hatte ein heißblütiger Jüngling bei seiner Freundin Eindruck schinden wollen. Es war nur zu hoffen, dass er sie nicht mit sich in den Tod riss.
Sie warf einen Blick zur Seite. Die Sträucher am Straßenrand könnten einen Schnitt vertragen. Die Blüten der Glyzinien und des Jasmins lagen wie dunkelrotes und weißes Konfetti auf der Straße. Sie vernahm dunkles Donnergrollen, dem nur Sekunden später ein heller Blitz am schieferfarbenen Himmel folgte. Was für ein Gewitter!
Lieber Gott im Himmel! Da war der rote Maserati schon wieder! Er raste ihr entgegen, und sie konnte nur um Haaresbreite einen Zusammenstoß vermeiden. Sie bremste abrupt und hupte nach italienischer Manier ununterbrochen. Durch den Regenvorhang war es ihr nicht einmal möglich, das Gesicht des Fahrers auszumachen, aber sie war sich absolut sicher, dass er keinerlei Notiz von ihr genommen hatte. Ein selbstmordgefährdeter Verrückter. Aurelia wechselte den Gang und kehrte mit ihren Gedanken zurück zu dem Problem, das sie derzeit beschäftigte.
Erst vergangene Woche hatte sie mit Maria darüber gesprochen, warum sie in all den Jahren im Dorf immer noch als Fremde angesehen wurde. Maria war ein tragendes Mitglied der Dorfgemeinschaft (mindestens fünf Generationen ihrer Familie hatten hier gelebt) und mit den Gesetzmäßigkeiten bestens vertraut, auch wenn sie ihnen dann und wann widersprach.
»Es wäre anders, wenn der Signor hier geboren wäre«, hatte sie geflüstert.
Aha. So etwas hatte sie bereits vermutet. Es lag an Enrico. Meine Güte! »Warum?«, fragte sie. »Was ist daran so schlimm, dass Enrico nicht von hier stammt?« Aurelia nahm eine Rispe Tomaten in die Hand.
Maria zuckte die Achseln, als gebe es eine ganz einfache Erklärung dafür. »Auch er ist ein Fremder«, sagte sie.
Enrico? Ein Fremder? »Er ist doch Italiener.« Aurelia konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen.
»Italiener? Pah!« Maria fegte die Antwort mit einer Handbewegung fort und widmete sich erneut den Zucchini. »Er stammt nicht aus Ligurien, das ist der Grund!«
Aurelia runzelte die Brauen. »Na ja, aber …« Sie dachte an die Weingärten und die Olivenhaine. »Sein Besitz …?«
»Den hat sein Vater erworben.« Maria warf ihr einen ihrer
Weitere Kostenlose Bücher