Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Sinnen?
»Halt dich fest!«
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Hubschrauber hob in einem Schwenk vom Boden ab, der ihren Magen in Aufruhr brachte, und schwebte hoch über den Bäumen wie eine Libelle über einem Weiher, ehe er abdrehte.
Ins Ungewisse, dachte Cari schaudernd. Sie starrte aus den großen Scheiben in Flugrichtung und vermied den Blick zu der offenen Seite, die einzig mit einer Strebe gesichert war. Wie sollte eine horizontal angebrachte Strebe verhindern können, dass man hinausfiel? Noch wollte sie nicht in die Tiefe blicken. Der Hubschrauber wirkte so leicht und instabil. Sie schwebten in einer ungeschützten Blase – wie fragil mochte diese Blase sein? –, und sie klammerte sich so fest, dass die Knöchel weiß wurden. Marco besaß Macht über ihr Schicksal. Und noch nie hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt.
Dieses Gefühl hielt zunächst an, doch nach ungefähr zehn Minuten fand Cari allmählich Gefallen an ihrem Ausflug. Hier oben am Himmel war man sehr isoliert, aber auch frei. Inmitten dieser blauen Atmosphäre, über allem schwebend, weit entfernt und losgelöst von den Dingen unter ihr, überkam Cari ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit. Als flöge sie selbst. Sie bemerkte, dass sie auf prächtige Wälder, Weinberge, Olivenhaine und die zerklüftete Küste der Italienischen Riviera blickte, ohne noch über ihre riskante Situation nachzudenken. Alles wirkte irgendwie irreal. Selbst das Meer sah aufgewühlter aus als zu Beginn des Tages. Als der Hubschrauber in eine Turbulenz geriet, war Cari nicht verängstigt, sondern eher erstaunt. Der Tag hatte sich doch so ruhig angekündigt.
Kaum flog Marco die Küstenlinie entlang, lehnte Cari sich entspannt zurück und genoss den Nervenkitzel. Wenn sie einer Herausforderung gegenüberstand, ähnelte sie möglicherweise mehr ihrer Mutter, als sie geahnt hatte …
Sie hatte beinahe vergessen, dass Marco ihr etwas zeigen wollte, bis sie plötzlich seine Stimme vernahm.
»Siehst du die Stadt auf dem Hügel dort unten rechts? An der Küste? Die Häuser sind rot, gelb und terrakottafarben gestrichen. Siehst du sie? Da steht eine Kirche in Rosa und Beige mit einem Glockenturm.« Er schwenkte etwas nach unten, damit sie es besser sehen konnte.
»Ja«. Sie lächelte. Wie hübsch! Herrlich, dieses Städtchen aus diesem Blickwinkel zum ersten Mal zu sehen. Ein Dorf auf einem Hügel. »Da bist du zu Hause?«, fragte sie ihn über ihr Mikrofon.
Sie sah, dass er nickte. »Richtig.«
»Wie heißt der Ort?«
»Dort unten liegt das Dorf … Aurelia«, antwortete er zögernd.
Aurelia? Cari verschlug es die Sprache. Das Städtchen hieß Aurelia? Doch ehe sie ganz begriff, was er gesagt hatte, sank der Hubschrauber. Er schien zu taumeln.
»Und jetzt verfolge mit den Augen einen Weg«, fuhr Marco fort. »Vom Dorf Aurelia nach Westen, hinunter zum Meer.«
Bildete sie sich das nur ein, oder schwang tatsächlich ein Unterton mit, als würde er diesen Ausflug bereits bedauern?
Sie gehorchte. »Das ist ein Labyrinth.« Hatte er das gemeint? Das eindeutige dreidimensionale Muster auf einem blassen sandigen Untergrund? Aber es war nicht nur ein Labyrinth, stellte sie fest. Sie umklammerte den Griff fester. Die Hecke bestand aus drei kleinen Spiralen, in deren Mittelpunkt ein winziger blauer Fleck erkennbar war.
»Siehst du es?«, fragte er mit ausdrucksloser Stimme.
»Ja.« War das Zufall? Konnte es ein Zufall sein, dass hier in Ligurien, wo vielleicht ihre Großmutter lebte, ein Dorf namens Aurelia existierte und sich in unmittelbarer Nähe ein spiralförmiges Labyrinth befand, dessen Grundriss mit dem Muster ihres wertvollen Bernsteinanhängers übereinstimmte?
Cari wollte nicht länger in der Luft bleiben. Der Himmel war inzwischen verhangen, und das Ganze war ihr nicht mehr geheuer. Sie wollte darüber nachdenken, was all das bedeutete.
Als wisse Marco genau, was sie empfand, machte er eine Kehrtwendung und flog zum Ausgangspunkt zurück. Jetzt herrschte eine vollkommen andere Atmosphäre im Flugzeug – eine fühlbare Spannung, die der Witterung entsprach und Cari nur noch mehr verwirrte. Was wusste Marco über ihre Großmutter Aurelia und die drei Spiralen auf dem Bernsteinanhänger?
Als sie wieder im Maserati saßen, lenkte Marco den Wagen schweigend. Ein heftiger Regen nahm ihm die Sicht beinahe völlig. Die Wischerblätter jagten über die Scheibe, während sie auf der gewundenen Küstenstraße in Richtung Lerici fuhren. Cari verlor kein Wort
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