Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
undurchschaubaren Blicke zu. Ein ganzes Zeitalter sprach aus Marias braunen Augen. Sie beugte sich vor. »Der nicht einmal hier gelebt hat.«
»Aha.« Langsam dämmerte es Aurelia. Was für eine Beleidigung für die stolze Dorfgemeinschaft, Oliven und Wein auf ligurischem Boden anzubauen und ligurische Arbeiter zu beschäftigen, ohne selbst auf dem Besitz zu leben, durch den er zu Wohlstand gekommen war! Marias Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das ohne Zweifel mit Hochverrat gleichzusetzen.
»Er hat in der Toskana gelebt«, zischte Maria.
Aurelia trug ihren Korb zur Kasse. Toskana. Das Ende der Welt? Nein. Nur gerade eben auf der anderen Seite der Grenze. Gerade mal drei Meilen von La Sirena entfernt, weniger als fünf von dem Dorf nahe dem Hügel. Da steckte eine Logik dahinter, die für sie zu hoch war. Aber als sie an das Verhältnis von England und Schottland dachte, keimte in ihr ein Funken Verständnis auf.
»Aber Enrico ist doch in das Dorf gezogen«, erinnerte sie Maria. »Ligurien war ihm zweifellos gut genug. Er liebt diesen Ort.«
»Sì, sì.« Maria schob jede Sorte Gemüse in eine separate braune Papiertüte.
»Aber er war die erste Generation …«
»Sì …«
»Die Sünden der Vorväter?«, fragte Aurelia.
Maria verdrehte die Augen. Eine Geste, die Bände sprach.
»Und als er Catarina heiratete?« Aurelia verstaute das Gemüse in ihrer Einkaufstasche. Weshalb musste sie Maria denn immer alles aus der Nase ziehen? Maria machte eigentlich nicht den Eindruck, als widerstrebe es ihr, diese Dinge anzusprechen. Doch offenbar war es Sitte, den Eindruck zu wecken, man gebe all dies nur ungern preis. Keinesfalls durfte man als Klatschbase auftreten, selbst wenn man eine war. Natürlich sollte man private Dinge – die auch das Dorf betrafen – nicht bereitwillig an die straniera preisgeben, selbst wenn man sie seit nahezu zwanzig Jahren kannte. »Damit gehörte er doch dazu, oder?«
»Einerseits …«, gestand Maria ein. »Andererseits …«
»Ich verstehe.« Aurelia nahm einen Zehn-Euro-Schein aus der Geldbörse. Sie hatte Luigis Worte noch im Ohr. Catarina war offenbar durch das Dorf gerannt und hatte überall verlauten lassen, dass jemand sie umbringen wolle und Enrico sie mit einer anderen Frau betröge. (Jeder im Dorf hatte daraufhin natürlich zwei und zwei zusammengezählt und sich seinen Reim darauf gemacht.) Doch niemand konnte leugnen, dass Catarina einsam und unglücklich gewesen war. Und sie war nun einmal eine von ihnen. Daher war es schwer vorstellbar, Enrico in die Dorfgemeinschaft aufzunehmen, nicht wahr? »Aber Elena lebt doch auch schon so lange hier«, sagte sie. »Und sie und Enrico sind sich doch sehr verbunden …« Aber hoffentlich nicht zu sehr, dachte sie.
Maria betrachtete ihre Kundin mit größter Skepsis. »Sì.« Sie zählte Aurelias Wechselgeld langsam und ganz bewusst aus.
Aurelia begriff, dass Maria die Unterhaltung am liebsten beenden wollte.
»Es gibt Schwierigkeiten.« Maria war im Begriff, sich wieder ihren Gemüsekisten zu widmen. »Alte Familienstreitigkeiten. Die will ich Ihnen lieber ersparen.«
Dabei interessierte Aurelia sich gerade dafür. Aber es war sinnlos, die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Nicht zuletzt, weil sich in diesem Augenblick der Perlenvorhang teilte und Stella den Laden betrat. Seit dem Tod ihres Mannes vor zwanzig Jahren ging sie in Schwarz und wirkte verbittert und traurig.
Aurelia hielt den Wagen an, stieg aus und öffnete die hohen, schweren Eisentore. Uff … Entweder wurden die Tore täglich schwerer oder sie immer schwächer.
Binnen zwei Minuten war sie nass bis auf die Haut. Sie fuhr in die Einfahrt und parkte hinter den Zypressen, so nahe wie möglich an der Haustür.
Erst als sie, geschützt durch eine große Plastikplane, die im Kofferraum gelegen hatte, ihre Malutensilien aus dem Auto nahm, hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Jemand stand auf den Eingangsstufen. Wegen des Regens hatte sie es nicht bemerkt. Eine schmale, verloren aussehende Person.
Unter ihrer Last leicht wankend, ging Aurelia auf sie zu. Die Augen der jungen Frau waren leuchtend grün und erinnerten sie irgendwie an jemanden …
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie höflich auf Italienisch.
Die junge Frau schien sie nicht verstanden zu haben. Sie war älter, als Aurelia zunächst angenommen hatte. Vielleicht Mitte, Ende zwanzig. »Buona sera …« Sie tat sich schwer mit der Sprache.
»Sind Sie Engländerin?« Aurelia setzte ihre
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