Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
erkundigte sie sich zögernd und beugte sich über den Tisch, als müsste sie sich abstützen. »Was ist mit meiner Tochter?«
Cari wurde blass und biss sich auf die Lippe.
»Was?« Aurelias Brustkorb schnürte sich zusammen, ihre Kehle wurde plötzlich trocken. Ich habe ihr Tagebuch gelesen . Aus welchem Grund sollte Cari Tasmins Tagebuch gelesen haben? Und die Fotografie? Und der Bernsteinanhänger …?
»Es tut mir so leid.« Caris Augen füllten sich mit Tränen, als sie Aurelia ansah.
Aurelia schüttelte den Kopf. Sie hatte es bereits geahnt. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, näherte sie sich langsam dem Stuhl und setzte sich. Das letzte noch fehlende Puzzleteil, das sie in den zurückliegenden Monaten intensiv beschäftigt hatte, war nun endlich an seinem Platz. »Wie?«, fragte sie.
Cari zuckte die Schultern, doch Aurelia konnte ihren Schmerz nachempfinden. Dieses Mädchen hatte seine Mutter verloren.
»Sie hat auf einer Party eine Ecstasy-Pille geschluckt«, erklärte sie, »und sie nicht vertragen.«
Die Wahrheit verschlug Aurelia die Sprache. »Auf einer Party?«, wiederholte sie. Dein Kind darf niemals vor dir sterben. Das ist gegen die Natur. Und noch dazu auf einer Party …? »Wann?«, fragte sie weiter.
»Vor ein paar Monaten.« Cari seufzte tief und ließ die Schultern hängen. »Sie hat mir ein kleines Erbe hinterlassen, und ich bin mit dem Geld nach Italien gefahren.«
Um mich zu finden … Aurelia war tief bewegt. Wie in Trance erhob sie sich, und die beiden Frauen gingen instinktiv aufeinander zu. Aurelia konnte Caris mild nach Zitronen und Rosen duftendes Parfum sowie ihre wunderbar weichen Haare riechen, die in der warmen Küche getrocknet waren und ihr nun in dunkelbraunen Zöpfen auf die Schultern fielen. Die Tochter ihrer Tochter.
Sie dachte an das Labyrinth, in dem sie das eigenartige Gefühl von Vergebung erfahren hatte. Und zwar nicht nur ein-, sondern zweimal. Sie war überzeugt, dass es beim ersten Mal um Catarina gegangen war. Doch beim zweiten Mal? Dem Irrgarten wohnte eine Spiritualität inne, die sie noch nie in Frage gestellt hatte, auch wenn ihr weder klar war, weshalb diese Spiritualität davon ausging, noch worauf sie beruhte. War es Tasmin gewesen? Hatte sie Aurelia nun doch einen Besuch abgestattet?
»Ich danke dir, mein Liebes«, sagte sie. Sie spürte, wie das Gefühl von Verlust von ihr Besitz nahm. Der Verlust von Tasmin und … »Und Richard?«, fragte sie Cari.
»Ich habe ihn nie kennengelernt. Er ist vor meiner Geburt gestorben.«
Aurelia hatte oft darüber nachgedacht. Richard lebte also seit vielen Jahren nicht mehr. Das bedeutete, dass Tasmin bei Caris Geburt noch sehr jung gewesen war. Ich bin Witwe!, schoss es Aurelia durch den Kopf. Eine ungebundene Frau, ohne es je gewusst zu haben. Sie trat einen Schritt zurück. »Ich danke dir, dass du mich gesucht hast.«
K
apitel 28
In der Ferne hörte Cari eine Glocke schlagen – zweifellos die Glocke des gedrungenen Kirchturms, der das Dorf auf dem Hügel beherrschte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Zeit zu gehen. Marco wartete sicher schon. Aber wie konnte sie so einfach aufstehen und sich verabschieden, nachdem sie hier hereingeschneit war und Aurelia mit all diesen Dingen über ihren früheren Mann und ihre Tochter konfrontiert hatte? Sie beugte sich vor und drückte Aurelias Hand, die wie das Haar mit blauen und grünen Farbspritzern übersät war. Was sie wohl gerade gemalt hatte? Das Meer?
Aurelia wischte sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen und blinzelte heftig. Mühsam rang sie um Fassung. »Dann wusstest du also, dass ich in Lucca war?«
Offensichtlich versuchte sie immer noch, die Zusammenhänge zu begreifen. Cari nickte. Marco würde bestimmt Geduld haben. Vermutlich war ihm klar, dass sich bei solch einer Begegnung weder vorhersagen ließ, wie man aufgenommen wurde, noch wie lange sie dauern würde. Sie dachte an sein angespanntes, verschlossenes Gesicht, als er sie heute Nachmittag nach dem Hubschrauberrundflug im strömenden Regen hierher gefahren hatte.
»Bist du in das Reisebüro gegangen? Hat dir Bianca erzählt, wo du mich finden würdest?«
»Ins Reisebüro?« Wie seltsam. Cari dachte an die Frau, bei der sie den Wagen gemietet hatte. Perfektes Make-up, elegantes Kostüm, Namensschild … Ja, sie hieß tatsächlich Bianca. Vage erinnerte sich Cari daran, dass sie überlegt hatte, ihr das Foto zu zeigen, und musste lächeln. Letztendlich hätte sie Aurelia
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