Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
von dem Abend, an dem sie ihr die Bernsteintriskele überreicht hatte. Eine Libelle, in Bernstein gefangen, vergleichbar mit dem Schicksal ihrer Mutter, die ebenso in die Falle gegangen war. Und Aurelia genauso, bis sie sich schließlich von Richard hatte befreien können. Drei Spiralen, Geburt, Tod, Wiedergeburt. Die weibliche Triade – Jungfrau, Mutter, Greisin . Ihre Großmutter war eine sehr ernste Frau gewesen. Aurelia sah sie vor sich – in ihr schwarzes Tuch gehüllt, von Kopf bis Fuß die Heidin, dessen Hugh sie bezichtigt hatte.
»Die keltische Triskele verkörpert Selbstfindung«, erklärte Aurelia ihrer Enkelin, wie es ihre Großmutter eines Abends im Garten in Hertfordshire erklärt hatte. »Die wichtigste Reise überhaupt. Das waren Hesters Worte, als sie mir den Bernsteinanhänger überreichte.«
Cari erwies sich als gute Zuhörerin, die Aurelias Worte offensichtlich gierig aufsog. »Und nach dem Krieg?«, bohrte sie weiter. »Hast du Hester wiedergetroffen?«
»Ihr Haus war zerbombt«, antwortete Aurelia seufzend und lehnte sich zurück. Unzählige Male hatte sie die Bilder vor ihrem inneren Auge vorbeigleiten sehen. »Mein Vater hat uns davon überzeugt, dass sie keine Überlebenschance hatte. Wie auch?«
»Aber sie hatte überlebt?« Im Gegensatz zu Aurelia beugte Cari sich vor, das Kinn in die Hände gestützt.
Zwar hatte sie den Anhänger wieder unter die Bluse geschoben, doch Aurelia konnte nach wie vor die schwere Silberkette an ihrem schlanken Hals sehen. Ob sie das Schmuckstück ständig trug? Aurelia hatte es nie angelegt. Denn sie hatte Hester versprechen müssen, niemandem davon zu erzählen und sie erst zu tragen, wenn sie frei sei. Und dann? Na ja, Richard hatte die Kette nie gemocht. Meistens lag sie in einer Schublade zwischen ihren Strümpfen und der Unterwäsche. Natürlich hatte sie das Schmuckstück oft herausgenommen und betrachtet, aber im Grunde schien es ihr viel zu wertvoll und auch zu stark an die Vergangenheit geknüpft zu sein, um es täglich zu tragen. Vielleicht war es ihr aber auch zu geheimnisvoll vorgekommen.
Cari wartete sichtlich interessiert auf eine Antwort. Aurelia nickte. »Als Tasmin noch klein war, habe ich den Ort aufgesucht, an dem Hesters Häuschen gestanden hatte.« Sie hatte nicht damit gerechnet, es noch dort vorzufinden, aber man konnte ja nie wissen … Mary und Hugh waren bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen, und es hatte viel Zeit gekostet, ihre Habe zu sichten und zu ordnen. Sie überlegte, wie anders sich die Beziehung zu ihrer Mutter hätte entwickeln können, wenn Mary gesund gewesen wäre und es Hugh nicht gegeben hätte – und dass sie in gewisser Weise erleichtert war, dass Mary nun einer Ehe entkommen war, die für sie gewiss die Hölle bedeutet hatte. Oder nicht? Die Reise zu Hesters Häuschen war vermutlich eine Art Bußgang gewesen und der Versuch, der Wahrheit näher zu kommen.
Unterdessen war der Kaffee kalt geworden, doch Aurelia war gedanklich zu sehr in ihrer Vergangenheit gefangen, um erneut einen Kaffee aufzusetzen. Wahrscheinlich hätte sie Cari etwas zu essen anbieten sollen. Was war sie doch für eine miserable Gastgeberin! Doch irgendwie fehlte ihr augenblicklich die Kraft dazu.
»Ich stand dort, wo sich das Cottage befunden hatte.« Aurelias Erinnerung war so klar, als sei all das erst gestern gewesen. Sie dachte an das Geißblatt und den üppig rankenden weißen Rosenstrauch, die freudige Überraschung auf Hesters Gesicht, wenn sie die Tür öffnete und die Künstlerin und Bildhauerin gedanklich wieder zur Großmutter wurde und in die gemeinsame Welt zurückkehren musste. Ja, man hätte es ohne weiteres als Pilgerreise bezeichnen können – sowohl für Mary als auch für sich selbst.
»Und während ich dort stand und überlegte …« – ihre Stimme stockte –, »… näherte sich ein Bauer auf seinem Traktor.«
»Und?«, drängte Cari.
Aurelia erinnerte sich an sein sonnenverbranntes, runzliges Gesicht. Die Bauern in Cornwall hören offenbar nie zu arbeiten auf, sondern werden mit jedem Jahr zäher. »Er hat mich wiedererkannt.« Sie schmunzelte. »Und mir gesagt, Hester sei am Leben.«
Cari entschlüpfte ein leiser Seufzer.
»Und nicht nur das! Er wusste sogar, wo sie wohnte – gerade mal eine halbe Meile entfernt.«
»Ach, wie wunderbar!« Cari atmete erleichtert auf.
Aurelia nickte. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre Freude. »Aber sie lag im Sterben, meine Kleine.« Sie tätschelte
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