Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Caris Hand, als brauche sie Trost. »Und als ich sie schließlich zu Gesicht bekam, wirkte sie ziemlich verwirrt.«
Hester hatte während Aurelias einzigem Besuch vor dem Tod der Großmutter seltsamerweise von Italien gesprochen. Aurelia hatte jedoch ihren Worten keinen Sinn entnehmen können. Das war lange, bevor Aurelia jemals daran gedacht hatte, selbst nach Italien zu gehen. Hesters Worte waren vollkommen unverständlich gewesen. Hauptsächlich Namen, und immer wieder den Namen eines Mannes hatte sie genannt. Antonio. Aurelia lächelte. Vermutlich hatten Hester und Antonio vor langer Zeit eine Liebesbeziehung gehabt – vielleicht sogar in Italien, wo Hester sich einige Zeit aufgehalten hatte. Damals hatte Hester von der »andersartigen Landschaft« gesprochen, die sie so sehr liebte. Aurelia, Aurelia , hatte sie immer wieder vor sich hin gesagt. Aber ja, Gramma, ich bin hier .
Doch Hester hatte nur noch enttäuschter als je zuvor gewirkt.
Aurelia glättete ihren Rock. So ist es, wenn man alt und senil wird, dachte sie. Man reist in Gedanken in die Vergangenheit, während man kurz zurückliegende Ereignisse vergisst. Stattdessen erinnert man sich plötzlich klar an seine Kindheit und Jugend.
Aurelia blickte an Cari vorbei durch das Küchenfenster hinaus in den Garten, wo Kräuter, Gemüse und Salat wuchsen. Ja, der Gedanke, dass Hester sich an einen ehemaligen italienischen Geliebten und an stürmische Momente erinnerte, gefiel ihr. Obgleich sie eigentlich etwas ganz anderes hatte erfahren wollen.
»Erinnerst du dich an die Bernsteintriskele?«, hatte Aurelia Hester gefragt und ihr den Anhänger gezeigt. Sie hoffte, dass der Anblick des Schmuckstücks Erinnerungen in ihr wecken würde.
»Ja«, hatte Hester lächelnd geantwortet, die faltigen Finger um das Schmuckstück geschlossen und nur gemurmelt: »Antonio.« Ach je. Und wenig später, kurz vor dem Einschlafen: »Gino.«
Cari blickte ihre Großmutter verwirrt an. »Aber weshalb hat sie sich denn nach dem Krieg weder mit dir noch mit deiner Mutter in Verbindung gesetzt?«, fragte sie. »Warum hast du nicht in Erfahrung gebracht, dass sie noch am Leben war?«
»Sie hatte Briefe geschrieben.« Aurelia hatte stets ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Vater, dennoch fiel es ihr nun schwer, diese Frage zu beantworten – selbst gegenüber ihrer Enkeltochter. Sie stand auf und ging um den Tisch herum zu Cari. »Mein Vater hat ihre Briefe abgefangen. Nach seinem Tod habe ich einen gefunden. Vielleicht hat es mehr gegeben, die er aber vermutlich alle vernichtet hat.« Nach wie vor verübelte sie das ihrem Vater.
Aurelia ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Pinot Grigio heraus. Es war höchste Zeit, ihrer Enkelin anstelle alter Erinnerungen eine Erfrischung anzubieten. »Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie nach so vielen Jahren überhaupt noch lebt.« Sie stellte die Flasche auf den Tisch und nahm zwei Gläser aus dem Schrank. Sie zögerte kurz, als sie einschenken wollte. »Natürlich hatte ich es mir erhofft. Schließlich bin ich hauptsächlich deshalb nach Cornwall gefahren. Aber …«
Cari schwieg. Verständlich, dachte Aurelia und schob ihr ein Glas zu. Etwas über seine Angehörigen zu erfahren ist eine Sache, aber etwas über sie erzählt zu bekommen, was einem unangenehm ist, eine andere. Dinge, die man nicht begreifen konnte. Oder die es einem schwer machten, sie zu mögen. Doch ihre Enkelin erweckte den Eindruck, als könne sie die Wahrheit ertragen.
»Kennst du den Grund?«, fragte Cari, dankte lächelnd und nippte am Wein.
»Nur vage.« Aurelia dachte erneut an jenen Tag, an dem sie beinahe ertrunken war. In den vergangenen Tagen war sie der Erinnerung an den Vorfall ziemlich nah gewesen. Und dennoch hatte sie die Beziehung zwischen Hugh und Hester nie richtig einzuschätzen vermocht. Sie war fest davon überzeugt, dass sie einander gehasst hatten. Auch war Verbitterung spürbar gewesen. Weshalb nur? Waren vielleicht einfach nur zwei ungleiche Menschen aufeinandergetroffen, oder hing es – wie sie vermutete – mit dem zusammen, was sich an jenem Tag am Strand von Port Isaac zugetragen hatte? Stück für Stück nahm das Puzzle in ihrem Kopf Gestalt an. Doch in ihrem Alter war dies ein langsamer Prozess und noch dazu ein Thema, das sie nur mit halbem Herzen vor ihrer Enkelin ausbreiten wollte.
Cari musterte sie mit ernstem Blick.
Aurelia fand es an der Zeit zu fragen, was sie wirklich wissen wollte. »Und Tasmin?«,
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