Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
und der terrassenartig angelegten Olivenhaine, die sie durchquerten. Sie begehrte ihn.
Aurelia schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Enrico würde den ganzen Tag unterwegs sein (ihre Großmutter wirkte darüber erleichtert). Ja, sie hatte ihm von Cari und Tasmin erzählt. Ja, sie hatte geweint und würde sicher noch mehr weinen. Aber nun war Cari hier, nur das zählte. Sie würden den gemeinsamen Tag genießen und vieles aufholen.
Zunächst führte Aurelia ihre Enkeltochter in ein beengtes Dachzimmer mit schrägen Wänden und Panoramafenstern, durch die das Licht hereinflutete. Der Raum mit seinen kornblumenblau gestrichenen Wänden wirkte völlig anders als der übrige Teil der kühlen weißen Villa. »Mein Atelier«, erklärte Aurelia mit Stolz in der Stimme.
Cari war beeindruckt – nicht nur von dem Atelier, sondern auch von der Tatsache, dass ihre fünfundsiebzigjährige Großmutter immer noch mit solcher Leidenschaft malte. Sie trat ans Fenster. Was für ein phantastischer Ausblick! Sie konnte den gesamten Park überblicken, der sich bis zur Bucht hinab erstreckte, und dahinter die Pinien, die einen Rahmen für das klare, in der Junisonne blau schimmernde Meer bildeten.
»Du kannst das Labyrinth von hier aus sehen.« Aurelia stand neben ihr.
Cari erkannte zwar, dass die Hecken teilweise aus rosa blühendem Oleander bestanden, aber die Spiralform ließ sich nicht so gut ausmachen wie gestern vom Hubschrauber aus. Auch den kleinen blauen Fleck im Zentrum konnte sie nicht entdecken. Anscheinend war Aurelia ihre Enttäuschung nicht verborgen geblieben.
»Ich bringe dich später hin«, versprach sie.
Sie ließ sich auf ein Sofa mit rotem Samtüberwurf nieder, während Cari im Atelier umherspazierte und die Atmosphäre in sich aufnahm. An den Wänden lehnten Stapel von Leinwänden, die Regale waren vollgestopft mit Malutensilien – Pinsel, Farben, Kohlestifte, Papier, Ölfarben … Alles, was das Malerherz begehrte. Der Geruch nach Terpentin hing in der Luft, ein wenig bitter, ein wenig muffig, der berauschende Duft eines Künstlerateliers.
»Woran arbeitest du gerade?«, fragte Cari. Sie hatte bereits einiges von Aurelias Werk zu Gesicht bekommen – Seestücke in leuchtenden Farben, italienische Dorfszenen, darunter die lebendige Darstellung eines Marktplatzes, in dem Cari die Piazza von Tellaro wiedererkannte. Auch der Gemüseladen mit seinen farbenfrohen Auslagen fehlte nicht: feuerrote Paprika und Tomaten, grüne Bohnen und Zucchini, glatte purpurfarbene Auberginen und dicke gelbe Melonen und Grapefruit waren in Kisten vor dem Laden gestapelt. Und sie hatte ein oder zwei Bilder von Brighton gesehen – und darauf die Lower Esplanade und den West Pier erkannt. Dann gab es ein Haus mit Garten, das Haus in Hertfordshire, von dem Aurelia erzählt hatte, wo sie aufgewachsen war und mit Dorrie und ihren Eltern gelebt hatte, und auch eine alte Collage mit blassen Muscheln und Seegras.
»Aus Port Isaac«, sagte Aurelia. Ihre Augen wurden feucht. Zweifelsohne eine Erinnerung an ihre Großmutter, die berüchtigte Gramma Hester. Wie gern hätte Cari diese unbeugsame und unabhängige Frau kennengelernt!
Cari, die sich inzwischen einem weiteren Stapel Leinwände zugewandt hatte, hielt inne. »Das ist hübsch.« Obwohl »hübsch« ein unzureichender Ausdruck dafür war. Das Gemälde, ganz in Purpur, Blau und Silber gehalten, zeigte einen geheimnisvollen Wald sowie Gestalten aus der Sagenwelt und der Mythologie. Die Pfade innerhalb des Waldes bildeten eine Triskele.
Aurelia stand auf. »Das ist ein Versuch, die keltische Dreifachspirale zu malen.« Sie drehte die Leinwand um, die auf der Staffelei stand. »Genau wie dieses Bild. Daran arbeite ich im Moment.«
Cari trat einen Schritt näher. Es war ein Bild des Labyrinths. Nicht, wie sie es gerade vom Fenster oder gestern vom Hubschrauber aus gesehen hatte, sondern zu einer anderen Tageszeit – vielleicht zur Dämmerung –, wenn es dunkler, der Eindruck intensiver war. Der bloße Anblick flößte ihr Unbehagen ein. Da war etwas …
»Ich wollte etwas einfangen …« Aurelia zuckte die Achseln, als sei sie sich nicht sicher, was sie einzufangen versucht hatte. »Ich wollte eine ganz außergewöhnliche Stimmung einfangen. Das Gefühl, das mich überkommt, wenn ich dort bin.«
»Es ist auf jeden Fall ein sehr kraftvolles Bild.« Cari wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Warum versteckte ihre Großmutter es? Weil es so anders war als ihre
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