Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Wirklichkeit um vieles herzlicher. Doch gleichzeitig war sie etwas verwirrt. Aurelia schien ein so wundervoller Mensch zu sein. Weshalb mochte sie England – und Tasmin – verlassen haben? Auf Nimmerwiedersehen.
»Tasmin …« Aus den Augen ihrer Großmutter sprach sowohl Trauer als auch … Bedauern? »Komm her, Liebes!«
Aurelia stand auf, als Cari auf sie zutrat, und sie umarmten einander stumm.
Aurelia fühlte sich in Caris Armen klein und zerbrechlich an. Cari hatte ihre Großmutter bereits ins Herz geschlossen. Es war richtig gewesen, nach ihr zu suchen. Es ließ sich nicht in Worte fassen, wie viel es ihr bedeutete. »Erzählst du mir etwas über meine Familie?«, fragte Cari. »Erzählst du mir, was sich damals zugetragen hat?«
Aurelia konnte den Blick nicht von der jungen Frau wenden. Im Zeitraffer spulten ihre Gedanken die Vergangenheit ab. Track eins, Track zwei … Dieses Mädchen, Cari, ihre Enkelin … Unfassbar! Sie schloss die Hände um die Tasse. Cari erinnerte Aurelia stark an ihre eigene Großmutter. Geradezu unheimlich. Cari war so jung, das Gesicht arglos, ohne eine Falte, aber sie besaß Hesters Augen – grün, strahlend, vor Energie sprühend – und dichte dunkle Wimpern; Hesters hohe Wangenknochen und ihr entschlossenes Kinn; und Hesters unbezähmbares kastanienbraunes Haar.
»Du siehst meiner Großmutter sehr ähnlich«, sagte sie zu Cari. Es mochte ziemlich albern klingen, aber sie wusste, dass dieses Mädchen verstand, was sie meinte. Hester hatte Aurelia in ihren Malversuchen unterstützt und sie in der Entwicklung eines unabhängigen Geistes gefördert. Ob Cari diese Wesenszüge auch geerbt hatte? Wie auch immer … Jetzt war sie hier, und das allein zählte.
»Hester.« Cari nickte.
Aurelia war verwundert. »Hat dir deine Mutter von Hester erzählt?«
Cari zuckte zusammen.
Weshalb bloß?, fragte sich Aurelia und zwang sich, einen Schluck Kaffee zu trinken. Es war wirklich seltsam. In der Küche saß ein Mädchen, das behauptete, Tasmins Tochter zu sein. Tasmin – wie mochte es ihr gehen? Ob sie Cari fragen sollte? Aber Cari war zweifellos Tasmins Tochter. Sie wusste sogar etwas über Hester. Doch wohl kaum von Tasmin, oder? Tasmin hatte sich nie für ihre Familie interessiert; hatte nie die Fragen gestellt, die eine Mutter von ihrer Tochter erwarten würde. Und sie hatte Hester, die schon nicht mehr lebte, als Tasmin noch ein Kind war, nie kennengelernt. Aurelia konnte kaum die Tasse halten, so heftig zitterten ihre Hände. Eine wahre Flut von Gefühlen überwältigte sie.
»Nein. Ich habe mit Dorrie gesprochen«, erwiderte Cari.
»Dorrie?« Aurelia schob ihre Tasse fort. Meine Güte, was für Überraschungen am Nachmittag! Die gute Dorrie. Sie hatte sich immer so liebevoll um Aurelia gekümmert, und sie waren sich später sehr nahegekommen, besonders in der Zeit, in der sie gemeinsam Mary umsorgt hatten und Hugh am liebsten zum Teufel geschickt hätten! Dorrie war nach Tasmins Geburt für eine Woche nach Brighton gekommen, um Aurelia zur Hand zu gehen. Doch Aurelia wollte ihre Mutter nicht länger als nötig mit Hugh allein lassen und hatte Dorrie, sobald sie Kind und Haushalt bewältigen konnte, zurück nach Hertfordshire geschickt.
Sie sah Cari an, die vollkommen gelassen wirkte. »Dorrie ist doch noch …?«
»Am Leben?« Cari grinste. »Aber sicher! Sie war es, die mir erzählt hat, dass du 1974 nach Lucca gegangen bist.«
Na! Aurelia setzte sich aufrecht hin. Dabei ist Dorrie bestimmt schon in den Neunzigern. Demnach steht Tasmin nach wie vor mit Dorrie in Kontakt, dachte Aurelia, sie hat ihr von mir erzählt und das Foto und die Triskele aufbewahrt. Sie versuchte zu ergründen, was all das bedeuten mochte. Aber etwas an diesem Bild schien nicht zu stimmen. Wieso ist Cari hierher gereist, um mich zu besuchen? Das ist – nach all den Jahren – doch nahezu unverständlich. Immerhin hat Tasmin nie von sich hören lassen. Sie hat mich in dem Glauben gelassen, dass sie mir nie verziehen hat …
Doch Cari redete, und Aurelia zwang sich, ihr zuzuhören.
»Hattest du zu deiner Großmutter Hester ein enges Verhältnis?«, fragte Cari. Dabei sah sie aus, als wisse sie mehr, als sie preisgeben wollte.
Wie viel mag Dorrie ihr erzählt haben?, fragte Aurelia sich. Von den Familienferien in Cornwall? Von Hesters Besuch in Hertfordshire und von Hugh und Mary? »Als Kind, ja.« Und ehe Aurelia sich versah, erzählte sie Cari von Port Isaac und Hesters Häuschen am Meer und
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