Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Ohne Ausnahme.
Aurelia spähte dann immer durch den Spitzenvorhang am Fenster ihres rosenrot tapezierten Schlafzimmers und schaute zu. Hester schnalzte mit der Zunge und klang dabei selbst fast wie ein Huhn. Sie griff mit der runzligen sonnengebräunten Hand in ihre geraffte, grün-weiß gestreifte Schürze und streute Getreidekörner für das Geflügel aus, das im staubigen Hinterhof herumpickte und scharrte. Dabei warf sie das lange Haar zurück, dessen Farbe so ungewöhnlich war, dass Aurelia sich manchmal dabei ertappte, wie sie ganz gebannt auf die dichten Locken starrte. Sie schimmerten in einem dunklen Kastanienrot, mit flammend rostroten Strähnen dazwischen. Kastanienrot, das allmählich zu Asche verglühte.
»Warum um Gottes willen lässt sie sich das Haar nicht schneiden? Es sieht einfach lächerlich aus«, regte sich Vater häufig auf. Und wenn er von Gramma Hester oder Cornwall sprach, wurde seine Stimme noch schroffer als sonst. Als hätte er Mühe, seinen Hass zu beherrschen. Aurelia schauderte es. Und manchmal … manchmal … Aber sie wollte nicht so denken, durfte es nicht.
Mutter blieb meistens stumm. Warum? Warum erwiderte sie nichts darauf? Vater liebte sie doch, bestimmt, denn auch wenn sie so oft krank war, war sie doch wunderschön. Und er kaufte ihr so viele hübsche Dinge. Abendkleider, die sich eng an ihren schlanken Körper schmiegten und ihre Knöchel umspielten. Schmuck, Hüte und sogar einen weichen Silberfuchspelz … Ach, bestimmt liebte er sie sehr. Und daher konnte sich Aurelia des Gedankens nicht erwehren, dass alles besser wäre, wenn Mutter endlich etwas sagen würde. Aber das geschah selten. Traurigkeit senkte sich wie Nebel auf ihre weichen Züge, ehe sie sich abwandte.
Aurelia hoffte inbrünstig, dass Gramma Hester niemals ihr Haar schneiden und auch niemals aufhören würde, exzentrisch auszusehen. Sie wollte keine Großmutter wie jene in Addleton mit ihren langweiligen Mänteln und dem ordentlich gewellten Haar unter den adretten Hüten. Hester sollte bleiben, wie sie war. So wunderbar und farbenfroh wie ein Regenbogen.
Wenn also Aurelia Gramma Hester zum Hühnerfüttern herauskommen sah, hielt es sie nicht lang am Fenster. Sie sauste die Treppe hinunter, um Gramma zu helfen. Mit beiden Händen griff sie in die volle Schürze und warf die Körner ihrem Lieblingshuhn Maddy zu, das leicht hinkte, als wäre es vorn zu schwer, und dessen braune Federn am Kopf abstanden, was seinem kleinen, spitzen Gesicht einen erstaunten Ausdruck verlieh.
»Aber werden sie nicht wütend sein?«, fragte Aurelia jetzt und verspürte das vertraute Ziehen im Bauch, wie immer, wenn sie etwas tat, was ihre Eltern nicht gutheißen würden. Gleichzeitig machte sie das Wissen darum, dass es dennoch einigermaßen in Ordnung war, ganz aufgeregt. Denn Hester würde nur lachen und Vater die Lippen zusammenpressen und nichts sagen. Warum? Es schien, als habe er hier in Cornwall, bei Hester, nicht das Sagen, das er in Addleton hatte. Erwachsenengründe, dachte Aurelia. Gründe, die niemand einer Neunjährigen nennen würde. Doch auch wenn sie ihrer Großmutter überallhin folgte, die Angst konnte diese ihr nicht nehmen.
Hester tat, als sei sie verärgert. »Sollen wir uns etwa darüber Gedanken machen?«, flüsterte sie.
Entsetzt schüttelte Aurelia den Kopf. Nein. Die Aussicht auf ein längeres Zusammensein mit ihrer Großmutter war eine zu große Versuchung, zu spannend, um dem zu widerstehen.
»Ich bereite uns ein Picknick vor«, sagte Gramma Hester, öffnete die Tür des Büfetts und nahm einen geflochtenen Korb und ein blau-weiß kariertes Tuch heraus. Dann holte sie Brot und Butter aus der Speisekammer. »Beeil dich, Liebes!«
Aurelia schlich die Treppe hinauf, um sich fertig zu machen, voller Angst, ihr Vater oder ihre Mutter könnten aufwachen und nach ihr rufen.
Aber nichts geschah, und fünf Minuten später war sie wieder unten und half Hester, den Picknickkorb mit allerlei Köstlichkeiten zu füllen: mit selbstgemachtem cornischem Gebäck, dick mit gelber Butter bestrichenen Broten, Törtchen, Limonade und saftigen roten Äpfeln.
Enrico spielte immer noch.
Fünf Stunden später saßen sie beim Picknick neben dem großen alten Anker am Hafen, der durch hoch aufragende Klippen geschützt war, inmitten der Fischerboote und der zum Trocknen ausgelegten Netze. Aurelia nahm den öligen Fischgeruch wahr, den Geruch der Salzkrusten auf den Kieselsteinen und an den Booten, des grobkörnigen
Weitere Kostenlose Bücher