Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
worden war.
Sie lächelte. Elenas Abendeinladungen waren wirklich ein Vergnügen. Sie hatte Elena über die Jahre hinweg lieb gewonnen, womit sie anfangs gar nicht gerechnet hatte, da Elena die jüngere Schwester von Enricos verstorbener Frau Catarina war. Aber Elena hatte sie so nett aufgenommen und sich so liebevoll um sie gekümmert, als wäre Aurelia wiederum ihre jüngere Schwester, und ihr geholfen, sich in Ligurien heimisch zu fühlen.
»Hoffentlich habt ihr genug Hunger mitgebracht.« Elena strich ihr blaues Seidenkleid glatt, das sich an ihre zierliche Gestalt schmiegte. Auch mit Ende siebzig, dachte Aurelia anerkennend, achtet sie wie eh und je auf ihr Aussehen.
»Ich habe Hunger wie ein Bär.« Enrico rollte die dunklen Augen und ging voran ins Wohnzimmer, das von einer mit Perlenschnüren verzierten Lampe und einigen cremefarbenen Kerzen erleuchtet wurde.
»Sehr gut.« Elena hob die schmale braungebrannte Hand. »Während ich also in der Küche die letzten Handgriffe erledige …« – sie deutete auf das elegante Klavier in einer Ecke des Zimmers –, »… spielst du doch bestimmt etwas für uns, Enrico, sì ?«
Enrico zuckte die Achseln.
»Ich helfe dir …«
Aber davon wollte Elena nichts hören. »Entspann dich, und lausche dem Maestro!« Sie nickte. »In Ordnung?«
Wer würde es wagen, dieser Frau etwas abzuschlagen, deren zarte Gestalt in keinem Verhältnis zu der Macht stand, die sie über ihre Freunde und ihre Familie ausübte? Aurelia gewiss nicht.
»Also gut.« Sie setzte sich auf eines von Elenas grünen Sofas und versank in dem weichen, kühlen Leder. Obwohl die Terrasse im Dunkeln lag, konnte Aurelia die Umrisse von Elenas sorgfältig gestutzten Zitronen- und Orangenbäumen ausmachen, die eben erst aus ihrem Winterquartier, der limonaia , geholt worden waren, sowie die schattige Pergola aus Kastanienholz, die bald dicht mit Wein berankt sein würde.
»Aurelia, Aurelia …« Elena sang ihren Namen, während sie einen Schemel herbeiholte. »Ich habe mich immer gefragt, warum du bei deinem ersten Besuch in Italien nicht sofort in das Dorf gefahren bist, nach dem du benannt bist.«
Die Frage überraschte Aurelia nicht. Seit sie Elena und Enrico kannte, äußerten die beiden immer wieder ihre Verwunderung darüber, dass sie denselben Namen trug wie deren Heimatdorf. Das Dörfchen Aurelia, südlich von Tellaro gelegen, nicht weit von der bezaubernden italienischen Riviera entfernt. Natürlich war das purer Zufall. Enrico hatte ihr erzählt, dass es auch eine Via Aurelia gab, die Goldene Straße, die aus der Römerzeit stammte und von Rom bis nach Frankreich führte.
»Es ist doch nur ein Name«, antwortete sie zum soundsovielten Mal, streckte die Beine aus und streifte die Sandalen von den Füßen. »Erst nachdem ich Enrico kennengelernt hatte, ist mir klar geworden, dass es ein italienischer Name ist.«
»Stimmt.« Enrico nahm auf dem Klavierhocker Platz, strich imaginäre Frackschöße glatt und zwinkerte Aurelia zu. »Was soll ich spielen?«
»Pachelbel, bitte.« Elena schenkte den aperitivo ein und setzte eine vielsagende Miene auf. »Deine Mutter hat es doch bestimmt gewusst.«
»Das bezweifle ich.« Mary hatte diesen Namen für ihre Tochter vermutlich nur gewählt, weil er so vornehm klang. Allerdings konnte Aurelia sich nicht erklären, warum ihr Vater Mary nicht gezwungen hatte, sich für einen weniger extravaganten Namen zu entscheiden – beispielsweise Jane oder Susan.
»Oder dein Vater? Wie hieß er doch gleich … Hugh?« Elenas dunkle Augen funkelten neugierig. Sie stellte die Gläser auf den Couchtisch.
Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte sie Aurelias Familiengeschichte erforscht. Aurelia nahm an, dass den Italienern der eigene Stammbaum wichtig war. Sie hielten große Stücke auf ihre Wurzeln.
»Ja …« Es musste das Alter sein. Elena und sie verweilten in letzter Zeit viel in der Vergangenheit und wandelten auf den Spuren ihrer Kindheit. Aurelia dachte an ihre Großmutter und Elena an ihre verstorbene Schwester Catarina und den Bruder, den sie vor so langer Zeit verloren hatte.
Enrico begann zu spielen. Die Töne perlten durch den Raum, und ein Windhauch vom geöffneten Fenster ließ die Kerzen flackern. Der Duft aus dem Backofen nahm an Intensität zu.
»Wie war er?«, fragte Elena.
Auf gar keinen Fall wollte sich Aurelia diesen angenehmen Frühlingsabend von Gedanken an ihren Vater verderben lassen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf
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