Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Wangen brannten. Mit sprühenden Augen und wirrem Haar betrachtete sie sich im Spiegel. Das konnte sie unmöglich sein!
»Das ist unfair!«, stieß sie hervor. »Das ist wirklich unfair!« Aufgebracht schloss sie die Augen. Sie wollte ihre Mutter nicht hassen und ihr nichts nachtragen. Sie liebte Tasmin doch. Aber wo war ihre Familie? Wo war das Foto ihres Vaters? Ein Name wäre schon mal ein Anfang gewesen. Wo war das Foto ihrer Großeltern? Dass sie tot waren, wusste sie, doch seit wann bedeutete »tot sein«, dass man nicht existiert hatte?
Sie lehnte die Stirn an das kühle, beschlagene Glas. »Lass gut sein, Cari!«, hatte Edward mehr als einmal zu ihr gesagt. »Deine Mutter wird dir alles erzählen, sobald sie bereit dazu ist.« Sein Blick war weich geworden. »Frag nicht ständig nach!«, hatte er gebeten. »Sie ist deine Mutter, und sie liebt dich. Lass es damit gut sein. Jedenfalls für den Augenblick.«
Doch wie konnte sie es damit gut sein lassen? Cari hatte sich die Fragen verkniffen, aber ihre Mutter würde niemals zu Antworten bereit sein. Inzwischen hatte sich die Anzahl von Fragen in Caris Kopf bereits vervielfacht, und sie würde mit ihnen ebenso wenig fertig werden wie mit den Trigonometrieaufgaben von einst, die sie nie hatte lösen können. Was war bloß so schmerzhaft, dass Tasmin sich weigerte, über ihre Eltern zu sprechen? Weshalb durfte sie, Cari, es nicht wissen?
»Du kannst dich glücklich schätzen«, hatte Cari zu Dan auf ihrer Zugfahrt zurück nach Brighton gesagt. »Unheimlich glücklich.«
Ich werde schon noch rechtzeitig dahinterkommen, redete sie sich nun zu und ging in ihr Schlafzimmer. Sie war diese Heimlichtuerei satt. Ich werde das Rätsel lösen, bevor es zu spät ist. Keine Geheimniskrämereien mehr! Ich werde Mutter erzählen, wie mir zu Mute ist. Tasmin muss mir reinen Wein einschenken. Mein Gott, ich bin immerhin fast dreißig und an einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich muss die Wahrheit erfahren.
»Meine Eltern sind wirklich außergewöhnlich, findest du nicht?«, hatte Dan damals strahlend geantwortet, als hätten er und Cari einen weiteren Schritt auf ihrem verheißungsvollen Weg in die gemeinsame Zukunft zurückgelegt.
»Ja«, hatte Cari geantwortet. Aber darum ging es nicht. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er seine Wurzeln kannte. Wurzeln, an denen er sich würde festhalten können, wenn Dinge auseinanderzufallen drohten. Einen Anker, von dem aus er sich verwirklichen konnte. Ein Fundament, auf das er bauen konnte. Und vermutlich auch eine Identität.
Sie hatte Dan ihre Gedanken mitteilen wollen. Doch er hatte so viel Selbstzufriedenheit ausgestrahlt, dass sie beschlossen hatte, es ihm vielleicht ein andermal zu sagen.
Ich habe es ihm immer noch nicht gesagt, überlegte Cari nun. Sie setzte sich aufs Bett. Stattdessen habe ich mir einen Bruchteil seiner Sicherheit zu eigen gemacht. Dan war ihr Fels. Sie würde sich immer auf ihn verlassen können. Und sie mochte ihn sehr, sehr gern. Selbst an fremde, sexy Italiener, die in ihr Schaufenster starrten und sie in eine Unterhaltung verwickelten, würde sie nicht einen Gedanken verschwenden. Was sollte das schon bringen?
Sie steckte ihr Haar mit einer Klammer fest und trug in langsamen Kreisen Reinigungsmilch auf ihr Gesicht auf, während sie sich dabei im Spiegel betrachtete. Die Augen ihrer heutigen Kundin schienen sie aus dem Spiegel anzusehen und sie etwas zu fragen. Ja, es war ein Wendepunkt. Sie wusste es. Sie stand an einer Schwelle zu etwas, was sie nicht begriff. Sollte sie auf der Schwelle verharren oder tief einatmen und einfach drauflosgehen?
K
apitel 3
»Herein, nur herein …« Elena winkte Aurelia ins warme Haus, in dem es köstlich nach Pastete, gefüllt mit porcini , Steinpilzen, und gebratenem Gemüse sowie nach Pesto duftete. Essen war in Italien beinahe eine heilige Handlung, und Aurelia wusste genau, dass sich Elena wie jede italienische Frau einen Großteil des Tages hingebungsvoll der Vorbereitung der Mahlzeiten widmete. Wobei selbstverständlich nur besonders frische einheimische Zutaten von erstklassiger Qualität Verwendung fanden.
» Buona sera . Wie geht es euch, meine Lieben?« Elena küsste sie liebevoll, als hätten sie einander seit Monaten nicht gesehen. Im Inneren des Hauses war alles blitzblank. Auch das war typisch für Italien, hatte Aurelia gelernt: Man war überzeugt, Gäste könnten sich nur dann wohl fühlen, wenn das Haus zuvor von oben bis unten geschrubbt
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