Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Enricos Klavierspiel. »Schwierig«, murmelte sie.
Lieber wollte sie an ihre Großmutter denken. Denn von ihr hatte sie erfahren, dass ihr Name etwas Besonderes war. Von Gramma Hester. Hester, die sie auf Spaziergänge ans Meer mitgenommen und ihr Geschichten von König Artus und Ganymed erzählt hatte, die sie eines Nachts an der Hand gefasst und nach draußen geführt hatte, um mit ihr den Mann im Mond anzusehen, die Marshmallows und Brötchen toastete, die lachte und sang, Sandburgen baute und bei Ebbe die mit Wasser gefüllten Felsenbecken erforschte. Hester hatte Aurelia gezeigt, woraus das Leben bestehen kann. In ihrem Cottage in Cornwall hatte auch sie Gemüse und Pasteten gebacken und cremefarbene Kerzen angezündet. Sie hatte Aurelia ermutigt, zu zeichnen und zu malen, und ihr eine völlig andere Welt gezeigt.
»Es ist ihr keltisches Blut …« Aurelia hörte die Stimme ihres Vaters so deutlich, dass es kein Traum sein konnte.
»Diesmal ist sie zu weit gegangen …«
»Merkst du jetzt endlich, was für einen schlechten Einfluss sie hat …?«
»Wir werden nie mehr einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen.«
Der Morris zuckelte über die Landstraßen. Sie waren auf dem Rückweg.
Es ist nicht einfach nur ein Haus, dachte Aurelia. Es ist ein Cottage. Ein Cottage wie aus einem Märchen, mit einer baufälligen, von Geißblatt umrankten Veranda. Samtige gelbe Blüten, deren süßer Duft einen daran erinnerte, dass man jetzt auf dem Land war, während man darauf wartete, dass Gramma Hester die Eingangstür öffnen würde. Sie würde einen zur Begrüßung umarmen, und anschließend würde es eine ganz besondere Teestunde geben – mit Scones und selbstgemachter Erdbeermarmelade und Sahne von dem Bauernhof am anderen Ende der Straße. Mmm …
Die Hintertür war immer offen, was Vater missbilligte. »Reicht es ihr nicht, dass man schon einmal bei ihr eingebrochen hat?«, wollte er wissen.
Das Gesicht der Mutter war ausdruckslos. »Ich glaube nicht, dass etwas gestohlen wurde.«
Enrico spielte weiter. Aurelia hatte das Gefühl, davonzuschweben, der Duft der Pasteten nährte ihre Sinne und nahm sie mit auf eine Reise in längst vergangene Zeiten …
»Lass uns blaumachen«, schlug Gramma Hester vor.
Sie saßen an dem abgewetzten Holztisch in Großmutters gemütlicher Küche. Bunte Flickenteppiche auf den Steinfliesen verhinderten, dass man beim Barfußlaufen kalte Füße bekam. Obwohl es noch nicht einmal sieben Uhr war, verströmte der Ofen den warmen und würzigen Duft nach Fleisch und Pastetenteig, und durch das geöffnete Fenster drangen die Geräusche des Sommers herein – das Scharren der Hühner, der Gesang der Vögel, das entfernte Brummen eines Traktors. Mochte sich Vater beschweren, dass dieses kleine alte Cottage kein Badezimmer besaß und ohne Elektrizität war – Aurelia machte es Spaß, die vielen Kerzen anzuzünden und zu beobachten, wie sich das herabrinnende cremige Wachs in großen Pfützen auf dem hölzernen Büfett und dem Tisch sammelte und eintrocknete. Sie liebte auch die bauchige Öllampe in ihrem Schlafzimmer und war froh, dass sie sich unten in der Küche waschen durfte, in der es nicht so zog wie in dem Badezimmer zu Hause.
»Blaumachen?«, hauchte Aurelia.
»Wir hinterlassen ihnen eine Nachricht. Ich fahre mit dir nach Port Isaac«, sagte Gramma Hester. »Nur wir zwei.«
»Ohne zu fragen?« Aurelia konnte es kaum glauben. Ihre Großmutter hatte vielleicht Nerven! Zu Hause musste für alles Vaters Erlaubnis eingeholt werden.
»Ohne zu fragen.« Hester nickte ernst. »Noch einen Toast?«
»O ja, bitte.«
Eines der schönsten Dinge an den Ferien bei Gramma Hester in Cornwall ist das Frühstück, dachte Aurelia, während sie genüsslich in den knusprigen Toast mit der köstlichen selbstgemachten Orangenmarmelade biss. Zum einen, weil es so viele gute Sachen gibt – mehrere Sorten Schinken und Wurst von der Farm, dazu pochierte Eier, Rühreier oder gekochte Eier mit Brot zum Stippen. Und den ach so leckeren Toast. Außen knusprig, innen weich. Warum nur schmeckte hier auf dem Land jeder Bissen so viel besser als zu Hause? Und zum anderen hatte sie beim Frühstück ihre Großmutter ganz für sich allein. Denn Gramma Hester hatte keine Haushaltshilfe – nicht einmal jemanden, der kochte und putzte –, und in den Ferien schliefen ihre Eltern bis mindestens acht Uhr aus. Während Gramma Hester schon um sechs Uhr aufstand, um die Hühner zu füttern. Bei jedem Wetter.
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