Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
gehabt, er würde mehr über ihre Familie wissen, als er preisgab? Vermutlich findest du mich nicht mehr so nett, wenn du mich erst besser kennst.
Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie war Marco also vollkommen gleichgültig. Und zwar von Anfang an. Er wollte irgendwas von ihr. Aber was? Ihre Freundschaft war purer Bluff. Die gemeinsame Nacht … Oh, mein Gott … Sie erhob sich langsam. Nein, hier würde sie nicht in Tränen ausbrechen …
»Cari.« Dan streckte ihr die Arme entgegen. Was wollte er ihr anbieten? Mitgefühl? »Es tut mir leid, dass ich derjenige bin, der dir all das sagen muss …«
Oh, ja, natürlich, es war nicht zu übersehen! Die Bestürzung stand ihm gleichsam ins Gesicht geschrieben …
»Seit wann weißt du es?« Sie stellte sich vor ihn hin, bemüht, die Tränen zurückzuhalten, und forderte eine Antwort.
»Ich habe es kurz vor deiner Abreise erfahren«, räumte er ein.
»Vor meiner Abreise!«
Er war im Begriff, aus dem Bett zu steigen. Binnen weniger Minuten würde die Schwester, die wie ein liebestrunkener Teenager unablässig um ihn herumscharwenzelte, zur Stelle sein. »Ich war der Meinung, es sei egal«, sagte er. »Ich wollte ihn zur Rede stellen und den Grund dafür erfahren.«
»Ach, mach dir keine Gedanken, Dan!« Cari war bereits auf dem Rückzug. Sie musste endlich von hier fort. Er war immer der Meinung gewesen, er habe mehr über ihr Leben zu bestimmen als sie selbst. »Ich werde den Grund dafür schon selber herausfinden.« Keine Frage! Und diesmal würde sie auch alle Antworten erhalten.
»Aber Cari …« Er wirkte richtiggehend erschüttert. Die weißgewandete Trösterin war ja in der Nähe. »Du fährst jetzt doch nicht mehr nach Italien, oder? Du bleibst hier, nicht wahr? Du und ich …«
»Dan, es gibt kein ›Du und ich‹ mehr. Es ist aus.« Sie nahm ihre Jacke. Viel länger würde sie sich nicht mehr zusammenreißen können. »Ich habe es dir bereits gesagt. Und deine Worte ändern nichts daran.«
Sie verließ das Zimmer, ohne zurückzublicken. Er sollte ihre Tränen nicht sehen. Nein, es änderte nichts an ihrer Beziehung zu Dan. Aber was Marco anging … Sie begriff es einfach nicht.
Warum?
K
apitel 38
»Die Familien waren damals eng befreundet«, erklärte Elena. »Sehr eng sogar.«
Diese Verbundenheit bestand offensichtlich nicht mehr, schloss Cari daraus.
Cari, Aurelia und Elena waren am Spätnachmittag zu einem Bummel durch das Dorf aufgebrochen. Diese passegiata war eine typisch italienische Gewohnheit, die Cari sehr schätzte, auch wenn man alle paar Minuten stehen bleiben musste, um mit Dorfbewohnern zu plaudern. Nicht nur mit Alfonzo, dem Inhaber der Metzgerei, und mit Maria vom Obst- und Gemüseladen, sondern auch mit Sofia, der Tochter von Lorenza und Louis, sowie einer Anzahl anderer Menschen. Diese Spaziergänge dienten nicht nur dem Austausch, sondern waren auch eine willkommene Gelegenheit, ein neues Kleid oder eine kürzlich erstandene Jacke auszuführen. Was ganz in Ordnung gewesen wäre, wenn Cari nicht ungeduldig auf die Fortsetzung von Elenas Geschichte gewartet hätte. Jede Unterbrechung steigerte die Spannung ins Unerträgliche.
Auf der Via Veneto verabschiedete sich Elena winkend von einer schwarz gekleideten Frau und deren braungebranntem Sohn. »Das ist eine lange Geschichte«, fuhr Elena dann endlich fort, »die angeblich bis in die Römerzeit zurückgeht, als die beiden Geschlechter Bianchi und Timpone über Ligurien herrschten.« Elena blieb stehen, lehnte sich an das Geländer und blickte hinunter.
Cari folgte ihrem Beispiel. Grandios, dachte sie. Was für ein umwerfender Blick! Selbst der Weg, der zur Küstenstraße und zu La Sirena führte, war zu erkennen.
Sie hatten den Bummel an Elenas Villa – dem höchstgelegenen Punkt des Dorfes – begonnen und waren hinunter zur Piazza und zu Luigis Bar spaziert. Dort hatten sie sich einen Aperitif gegönnt und dann den Weg bergauf fortgesetzt. Mittlerweile waren sie beinahe wieder auf dem höchsten Punkt angelangt, diesmal aber westlich von La Sirena . Unter ihnen standen unzählige Olivenbäume. Unterhalb der akkurat angelegten Furchen der Olivenbäume und Reben gediehen vereinzelt ausladende Feigenbäume, Sternjasminbüsche, pastellfarbene Hortensien oder Oleanderbüsche. In den Bereichen, in denen der Hang nicht terrassiert angelegt war, blühten wilder Ginster, Schwert- und Feuerlilien. Das Erdreich und die Mauern speichern die Sommerhitze, dachte Cari. Kaum setzt man
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