Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
den Anhänger Hester anvertraut?«, fragte sie. Auch wenn er in Mary verliebt gewesen sein sollte – und durch die Erzählungen ihrer Großmutter wusste sie, wie unglücklich Mary gewesen war –, ergab es keinen Sinn.
»Um ihn weiterzugeben«, meinte Marco. »Das ist die einzige Erklärung.«
Cari stellte sich vor, wie er die Spur der Bernsteintriskele verfolgt hatte. Von Cornwall über Hertfordshire bis nach Brighton. Von Hester zu Mary, zu Aurelia und zu Tasmin. Und schließlich zu ihr … »Weiterzugeben?«
»Über die weibliche Linie.« Er zog eine Augenbraue nach oben.
Cari hielt den Atem an. »Aurelia?«, flüsterte sie.
Er nickte. »Seine Tochter.«
»Aber was ist mit …«
»Mit Hugh?« Er zuckte die Achseln. »Ich habe die Daten der Eheschließung und der Geburt überprüft. Ich weiß nicht, wie lange Mary auf die Rückkehr ihres italienischen Liebhabers gewartet hat, nachdem sie die Schwangerschaft entdeckt hatte. Aber ihre Tochter ist nur einen Monat nach Marys Heirat mit Hugh zur Welt gekommen.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die schwarzen Locken. »Und sie hat sie nach dem Dorf genannt, aus dem ihr Geliebter stammte.«
Cari konnte es kaum glauben. Im Bemühen, diese Information zu verdauen, beobachtete sie gedankenverloren einen Teenager, der mit dem Moped auf die Piazza gefahren kam. Er rief etwas zu dem Haus neben dem Obst- und Gemüseladen hinauf. Jemand öffnete die Fensterläden, ließ einen italienischen Wortschwall vom Stapel und schloss die Läden wieder. Der Junge zuckte die Schultern und fuhr davon.
Cari rief sich ins Gedächtnis, dass es zur damaligen Zeit als Schande gegolten hatte, als ledige Frau Mutter zu werden. Viele Frauen hatten ihre Kinder zur Adoption freigegeben oder waren zu irgendeiner Engelmacherin gegangen, was sie nicht selten mit dem Leben bezahlt hatten. Mary hatte auf ihren Geliebten gewartet – allerdings nicht lange genug.
»Vielleicht hat Hugh schon einige Zeit im Hintergrund gelauert und seine Chance gewittert«, überlegte Marco. »Vielleicht hat sie sich ihm anvertraut, und er hat ihr versprochen, sich um sie und das Kind zu kümmern. Wer weiß? Wahrscheinlich hat sie geglaubt, ihr Italiener würde nie wiederkommen …« Sein Blick schien sie durchbohren zu wollen. »Aber wie dem auch sei, sie hat jedenfalls zugestimmt, Aurelia als Hughs Tochter auszugeben.«
»Und für den Rest ihres Lebens dafür bezahlt«, ergänzte Cari und musste daran denken, was Aurelia ihr über ihre schwierige Beziehung zu Hugh erzählt hatte. Was würde sie sagen, wenn sie die Wahrheit herausfand – dass Hugh nicht ihr Vater gewesen war?
»Also wurde die Bernsteintriskele über die weibliche Linie deiner Familie weitervererbt«, fuhr Marco fort.
Von Aurelia auf Tasmin. Von Tasmin auf Cari. Cari schluckte. »Ich bin eine Bianchi?«
Sein Blick war forschend. »Du bist eine Bianchi.«
Mein Gott! Cari riss sich den Anhänger vom Hals. Wenn er für so viel Aufruhr und Leid gesorgt hatte, dann wollte sie ihn nicht. »Deine Großmutter ist der Meinung, die Triskele gehöre von Rechts wegen ihr?«, fragte sie, ohne Marco dabei anzusehen. So fiel es ihr leichter.
Er nickte.
»Dann bring mich zu ihr, Marco.« Sie stand auf. »Am besten sofort.«
K
apitel 42
Die alte Sara thronte in einem antiken Schaukelstuhl aus Mahagoni, der mit quastenbehangenen Kissen in Karminrot und Weinrot gepolstert war. Sie trug ein schwarzes Kleid aus dickem Baumwollstoff und hatte ein schwarzes Wolltuch um die knochigen Schultern geschlungen. Ihr silbergraues Haar war straff zurückgekämmt und im Nacken zu einem festen Knoten frisiert.
Cari hielt sich im Hintergrund, während Marco seine Großmutter mit einem Kuss auf die faltigen Wangen begrüßte.
»Warum hast du sie hergebracht?«, stieß Sara hervor. Sie schaukelte nach vorn, packte mit zitternder Hand den Stock, der neben dem Stuhl lehnte, und deutete damit anklagend auf Cari. »Sie gehört nicht in dieses Haus. Sie ist eine Bianchi.«
Cari trat einen Schritt näher. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Als sie die Faust öffnete, blinkte der durchscheinende Bernstein auf ihrer Handfläche; es sah aus, als blinzelte er gegen die plötzliche Helligkeit an. Doch durch die halb geschlossenen Fensterläden drang nur spärlich Tageslicht in das Zimmer. Die Möbel waren reich verziert, aber düster, und die gesamte Einrichtung wirkte eher dunkel und bedrohlich. Marco hatte Cari vorgewarnt. »Sie empfängt kaum noch Besuch«, hatte er ihr auf
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