Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
respektieren.«
Aurelias Kopf schnellte hoch. »Wer?«
Elena starrte sie verwundert an. »Mein Bruder Antonio«, erklärte sie. »Dein Vater.«
»Antonio«, murmelte Aurelia. »Natürlich. Das ist er.«
Cari fragte sich, ob sich Aurelias Geist vielleicht verwirrt hatte. Nach all den Aufregungen und Entdeckungen der letzten Zeit wäre das wahrlich kein Wunder. Obwohl auch sie den Namen schon einmal gehört hatte. Hatte Hester ihn nicht vor ihrem Tod genannt?
»Kommt mit!« Aurelia stand auf. »Ich muss euch etwas zeigen. Kommt schon!«
Sie gingen um das Zelt herum zum Labyrinth, wo der Sternjasmin seinen honigartigen Duft verströmte. Schweigend spazierten sie den sandigen Pfad entlang und hielten sich links, um nicht in die Sackgasse zu geraten. Cari wusste, wohin der Weg führte. Er war ihr ebenso vertraut wie die Straßen des Dörfchens Aurelia.
Bei dem kleinen Teich im Herzen des Labyrinths blieben sie stehen.
»Was meinst du?«, fragte Cari.
Aurelia berührte den Kopf der Büste aus grau-grünem Stein, die neben der Bank aus Olivenholz stand. Der kühne südländische Matrose. »Ist er das?«, wandte sie sich an Elena. »Ist das die Büste deines Bruders Antonio?«
K
apitel 43
Elena zögerte. »Er sieht tatsächlich aus wie Antonio«, räumte sie ein. »Zumindest ein bisschen.«
»Ein bisschen?« Stirnrunzelnd betrachtete Aurelia die kühnen, nachdenklichen Gesichtszüge der Statue aus Stein. Sie war sich so sicher gewesen, hatte sie doch das letzte Gespräch mit Hester noch gut in Erinnerung. Sie hatte geglaubt, ihre Großmutter rede unzusammenhängendes Zeug daher, dabei war Hester verzweifelt bemüht gewesen, Aurelia die Wahrheit über ihre Herkunft darzulegen. Antonio. Wieder und wieder hatte Hester diesen Namen vor sich hin gemurmelt, hinter dem Aurelia einen von Hesters Liebhabern aus der Zeit ihres Italienaufenthalts vermutete. Nie und nimmer wäre ihr in den Sinn gekommen, dass Antonio ihr Vater war. Nun ja … Sie nahm ihren Hut ab und fächelte sich Luft zu. Mein Vater .
»Vielleicht hatte Hester ihn aus dem Gedächtnis in Stein gehauen, seine Gesichtszüge aber nicht ganz getroffen«, warf Cari ein.
Wie lieb von ihr! Doch Aurelia sah das ganz anders. Hester hatte stets gewissenhaft und präzise gearbeitet. Die Skulptur schien sich der Wölbung jedes Knochens, jeder Kontur anzupassen. Jede noch so geringfügige Nuance war ausgearbeitet. Sanft folgte Aurelias Finger den Umrissen des Gesichts, als könnten sie ihr etwas mitteilen. Wenn es sich bei diesem südländischen Matrosen nicht um ihren Vater Antonio handelte, wer mochte es dann sein?
»Eigenartig.« Elena setzte sich auf die Bank und drapierte ihr blaues Baumwollkleid um sich herum.
»Was ist eigenartig?«
Doch Elena schüttelte nur den Kopf. »Nein, das kann gar nicht sein.«
Aurelia nahm neben ihr Platz und ergriff ihre Hand. Ihre Tante! Sie konnte es kaum glauben. War dies nun alles ein unerklärlicher Zufall, oder hatte die Triskele sie hierher geführt? Oder hatte sie vielleicht sogar wegen Hesters Schilderungen einer andersartigen Landschaft hierher gefunden? Sie erinnerte sich, dass sie Lucca auf der Landkarte gesucht hatte, um sich ein Bild davon zu machen, wie weit die Stadt von der ligurischen Küste entfernt lag, als Ruth sie fragte, ob sie Lust habe, in ihrem Reisebüro zu arbeiten. Sie erinnerte sich an Enricos Interesse an ihren Bildern, die an den Wänden der Agentur hingen. Wie zögerlich er gewesen war! Und wie er sich mit ihr auseinandergesetzt hatte! Unbedingt hatte er ihr das Bild der Triskele abkaufen wollen. Auch fiel ihr wieder ein, dass er ihr Interesse noch mehr geweckt hatte, als er von Ligurien, Hesters andersartiger Landschaft, sprach. Ja, es hatte sie hierher gezogen. An diesen Ort, wo sie hingehörte. Und der Mann …? Nun ja, vielleicht konnte eine Frau wirklich nicht alles haben, wonach sie sich sehnte.
»Was kann nicht sein?«, fragte sie Elena.
Doch Elena saß völlig gedankenverloren da. »Es ist wirklich tragisch«, murmelte sie, »dass Antonio so früh hat sterben müssen.«
Cari kniete auf dem sandigen Weg. »Meinst du wirklich, sein Verschwinden hat nichts mit der Familie Timpone zu tun?«, fragte sie mit drängendem Ton in der Stimme. »Glaubst du, er ist womöglich einfach ertrunken?«
Armes Kind! Aurelia unterdrückte einen Seufzer. Cari war also immer noch in Marco Timpone verliebt. Trotz all der Mutmaßungen, die kursierten, klammerte sie sich an die Hoffnung, dass die Timpones
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