Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
so sicher.«
Cari fröstelte. Hasste er sie so sehr? Sie zwang sich, sich zu konzentrieren, die ganze Angelegenheit ernster zu nehmen. Was hatte es für einen Zweck, ihn gegen sich aufzubringen? Sie würde der Sache auf den Grund gehen und dann Adieu sagen. Vermutlich handelte es sich nur um ein dummes Missverständnis, das zu einem riesigen Melodrama aufgebauscht worden war. Darin waren die Italiener ja weiß Gott Experten. »Elenas Bruder hat Giorgio damit konfrontiert«, sagte sie. Widerwillig schob sie sich eine weitere Gabel Tagliatelle in den trockenen Mund. Wozu sich aufregen? Und selbst wenn, würde sie es sich gegenüber diesem gefühllosen Mistkerl bestimmt nicht anmerken lassen!
»Meinen Urgroßvater.«
»Uuh.« Der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar. Überraschung! Loyalität und Stolz – wahrlich bewundernswerte Eigenschaften.
»Und dann hat er ihm die Bernsteintriskele gestohlen.«
Sie starrte ihn an. »Er hat ihm was gestohlen?« Automatisch legte sie die Hand auf die Stelle, wo sich der Anhänger unter der lilafarbenen Bluse an ihre Haut schmiegte.
»Den Talisman der Familie.« Sein starrer Blick machte ihr Angst. »Den alten Glücksbringer, den mein Vorfahre Aurelius Lucia Bianchi zum Schutz für das neugeborene Kind geschenkt hatte.«
»Der Talisman«, wisperte sie. Sie erinnerte sich daran, dass Elena einen Talisman erwähnt hatte, ohne jedoch näher darauf einzugehen.
Er beugte sich vor. »Du musst doch gemerkt haben, dass er mehr ist als bloß ein hübsches Schmuckstück.« Sein Blick war auf die Stelle gerichtet, wo der Stein lag, auf Höhe des zweiten Knopfes ihrer Bluse. Er sprach über den Silberanhänger, nicht wahr? Oder dachte er dabei an den Körper unter der Bluse …?
»Aber …« Hatte sie es gemerkt? Eigentlich nicht. Der Stein war wunderschön, und das eingeschlossene Insekt machte ihn zu etwas Besonderem. Wollte Marco etwa wirklich andeuten, dass …?
Er griff nach ihren Händen. »Ich sollte dir das alles eigentlich überhaupt nicht erzählen, Cari. Eigentlich hatte ich es auch nicht vor.«
Sie zuckte bei der Berührung zusammen. Wie zärtlich er ihren Namen aussprach, mit der verführerischen Betonung auf der zweiten Silbe! Bestürzt schüttelte sie den Kopf. Ihr Bernsteinanhänger? Das ergab doch alles keinen Sinn. Und natürlich hatte er ihr das nicht verraten wollen. Marco Misterioso hatte ihr nicht das kleinste bisschen verraten wollen.
»Aber meine Großmutter Sara …« Er ließ ihre Hände los. »Ich habe ihr gestern Abend die ganze Geschichte erzählt. Sie hat gesagt, ich muss dich einweihen. Weil es auch dich betrifft. Und weil du es früher oder später sowieso erfahren wirst.«
»Was erfahren?« Der Marmor der Piazza gleißte in der Sonne. Cari zog den Anhänger aus der Bluse und umschloss ihn mit der Hand. Die Silberkanten schnitten ihr in die Handfläche, der Bernstein jedoch fühlte sich warm an.
Marco konnte den Blick nicht abwenden, der Anhänger schien ihn zu hypnotisieren. »Nachdem Elenas Bruder die Bernsteintriskele gestohlen hatte«, fuhr er fort, »hat er sie an jemanden weitergegeben, der ihm viel bedeutet hat. So muss es gewesen sein.«
»Natürlich.« Das war offensichtlich. Cari wartete.
Marco presste die Lippen zusammen.
Sie dachte daran, wie er sie geküsst hatte. Das erste Mal in Lucca vor ihrer Wohnung. Und dann in jener Nacht auf dem Hügel. Diese Lippen hatten jeden Winkel ihres Körpers erforscht, doch im Moment war davon nichts zu spüren.
»Die Bernsteintriskele war eigentlich für meine Großmutter bestimmt«, sagte er. »Aber sie hat sie weder besessen noch gewusst, was daraus geworden ist.«
Ist das etwa meine Schuld?, fragte Cari sich und spürte Zorn in sich aufsteigen. »Wem?«, fragte sie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sich schützen zu müssen. »Wem hat er sie gegeben?«
Marco wirkte plötzlich nachdenklich. Er lehnte sich im Stuhl zurück und legte die Hände auf den Tisch. »Deiner Ururgroßmutter.«
»Hester?« Jetzt verstand Cari gar nichts mehr. Aurelia hatte ihr so viel von Hester erzählt – dieser kreativen, unabhängigen, exzentrischen Bildhauerin mit dem kastanienbraunen Haar, der Cari äußerlich so ähnelte. Ging es hier um deren Schicksal? Cari nahm noch einen Schluck Wein. Falls dem so war, wäre etwas mehr Wein jetzt zweifellos hilfreich.
»Aber weshalb?« Marco schien sich das selbst zu fragen. »Weshalb sollte er die kostbare Bernsteintriskele einer Frau mittleren Alters geben, die in
Weitere Kostenlose Bücher