Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
und Gianmario führten das Messer und schnitten die Torte an. Unmittelbar danach versuchte der Bräutigam etwas Cremefüllung auf das Handgelenk der Braut zu streichen. Carmella kreischte vor Vergnügen und gab ihm einen liebevollen Klaps auf den Kopf. Ein gefundenes Fressen für den Fotografen.
»Was bedeutet das?« Edward betrachtete den Vorgang sichtlich fasziniert.
»Es ist offenbar ein Fruchtbarkeitsritual«, antwortete Cari lachend. Carmella hatte ihr während einer der Anproben davon erzählt, als Elena sich grummelnd über die Hochzeitstorte ausließ und genau beschrieb, wo sie platziert werden musste. »Carmella hat Glück. In Italien werden Hochzeitstorten nie gegessen – sondern immer nur auf die Braut geworfen.« Gianmario drohte, diese Tradition fortzusetzen, woraufhin Carmella ihm haarklein erklärte, womit er zu rechnen habe, sollte er seine Absicht tatsächlich wahrmachen.
»Bacio, bacio!« , rief jemand. »Wir wollen einen Kuss sehen!«
Carmella und Gianmario stellten sich nebeneinander und erfüllten den Gästen diesen Wunsch.
Doch das Publikum buhte und war sichtlich unzufrieden mit der Darbietung. Es begann mit den Händen auf die Tische zu schlagen, woraufhin Gianmario gehorsam die Arme um seine Braut schlang und sie noch einmal küsste – diesmal leidenschaftlicher.
Nun klatschten alle begeistert Beifall. Dieser Kuss entsprach offenbar mehr den Erwartungen.
Cari stimmte in das darauffolgende Gelächter ein. Doch plötzlich wurde ihr bewusst, dass es hier um die Liebe und das Gefühl der Zusammengehörigkeit ging – Erfahrungen, um die sie sich gebracht hatte, nein, schlimmer noch, die sie nie wirklich gemacht hatte.
»Cari.« Edward neigte sich ihr entgegen. »Ich weiß, wie gern du hier bist, und verstehe auch die Zuneigung, die du deiner Großmutter und anderen Familienmitgliedern entgegenbringst … Aber liebes Kind …«
»Wie bitte?« Kind. War sie immer noch ein Kind? Wurde sie mit neunundzwanzig Jahren von den anderen tatsächlich als Kind betrachtet?
Um den Lautstärkepegel des allgemeinen Geplauders zu übertönen, hob Edward die Stimme. Die Italiener verstehen es zweifellos, eine Hochzeit zu feiern, dachte Cari. »Warum bist du so traurig?«
Er hatte es also bemerkt. Sie war offensichtlich nicht imstande, ihre Gefühle zu verheimlichen. Doch wollte sie ihm die Geschichte überhaupt erzählen? Wie sollte sie darüber hinwegkommen, wenn alle sie unablässig daran erinnerten? Sie zuckte die Schultern. »Es geht mir gut, Edward.« Er sah sie noch skeptischer an. »Ehrlich.«
Nachdem die Reden ein Ende gefunden hatten, wurden die Tische beiseitegerückt, um genügend Tanzfläche zu schaffen. Das Podium in dem geräumigen Zelt bot ausreichend Platz für die Musiker, die bereits die ersten Takte anstimmten. Neben dem Keyboarder spielte einer Gitarre, während der dritte das Schlagzeug bediente. Alle klatschten zu dem Rhythmus. Selbst Cari beteiligte sich daran. Lautlos formten ihre Lippen noch einmal »ehrlich«, doch Edward schien keineswegs überzeugt zu sein. Was erwarteten denn alle von ihr? Dass sie auf dem Hochzeitstisch tanzte?
Gianmario und Carmella eröffneten den Tanz – wenngleich die Braut durch die lange Schleppe, die sie nun über den Arm gelegt hatte, in ihrer Bewegungsfreiheit gehindert war. Kaum hatten sie – begleitet von Anfeuerungsrufen – die Tanzfläche betreten, gesellten sich ohne längeres Zögern andere Paare hinzu. Enrico und Aurelia waren unter den Ersten, bemerkte Cari gerührt. Am Vortag hatte es zwischen Aurelias Zimmer, das neben ihrem Atelier lag, und Enricos Raum im Erdgeschoss ein unüberhörbares Hin und Her sowie anhaltendes Flüstern gegeben. Und – endlich – Gelächter. Die Atmosphäre in La Sirena hatte sich hörbar verändert.
Cari betrachtete Aurelia und Enrico. Sie hatten sich offenbar vertragen. Nein, das war stark untertrieben. Ihre Großmutter, in ein weit geschnittenes graues Kleid aus fließendem Stoff gekleidet, wirkte mit der rosa Nelke im Haar geradezu ein wenig gefühlsselig, während Enrico unaufhörlich grinste. Und das in ihrem Alter … Cari schmunzelte. Sie machten den Eindruck eines jungen, verliebten Paares.
»Würden Sie eine alte Dame zum Tanz führen, Signor?« Elena – elegant in türkisfarbenem Chiffon – hielt Edward auffordernd die Hand entgegen.
»Nur zu!«, ermunterte Cari ihn, ehe er überhaupt zögern konnte. Sie kicherte in sich hinein. »Dad.«
»Wow!« Aber er sprang umgehend auf und glättete
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