Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Überraschungen bevor!
»Dann sollten wir die ganze Sache begraben und vergessen.« Enrico rieb sich die Hände. »Schließlich feiern wir heute, no ?«
»Ja, ja, natürlich.« Aber niemand wirkte recht überzeugt, obwohl die Musik, das entfernte Gelächter und das Stimmengewirr der Gäste auch hier zu hören waren.
»Und was mich angeht …« Enrico zuckte die Schultern. »Ich finde, die Frauen haben Recht.«
Er erntete verständnislose Blicke.
»Diese Fehde sollte beendet werden.«
Gut. Aurelia nickte. »Auf jeden Fall.« Ansonsten hätten Marco und Cari keine Chance. War es wirklich möglich? Die beiden standen etwas voneinander entfernt, aber wenn man die Augen zusammenkniff … Aurelia blinzelte gegen die Sonne. Ja, das zarte Band zwischen ihnen war geradezu mit den Händen zu greifen. So würde sie die beiden malen.
»Bist du einverstanden, Marco?«
Er breitete die Arme aus. »Heute Morgen hatte ich einen furchtbaren Streit mit meiner Großmutter, den schlimmsten Streit meines Lebens. Sie hat gesagt, ich sei kein Timpone mehr. Was gibt es da hinzuzufügen? Es ist wahrlich das Ende einer Ära.«
Cari trat näher zu ihm, und er warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Aurelia nickte nachdenklich. Besser so … Obwohl ich nicht glauben kann, dass jemand wie Marco einfach so mit seiner Familie bricht, sinnierte sie. Was geschieht, wenn er seine Meinung ändert? Was ist in einem Monat, in einem Jahr, wenn ihm bewusst wird, dass er keine Familie mehr hat, an die er sich wenden kann? Sie fühlte mit Cari. Cari wusste ebenso gut wie Aurelia oder Tasmin, was es hieß, in der Falle zu sitzen. Andererseits hatte in jeder Generation ein Wandel stattgefunden, hatten die Frauen um Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft. Sicherlich spürte Cari dies ebenfalls.
»Für mich«, wiederholte Marco, »ist die Fehde beendet.«
»Stefano?« Enrico sah sehr ernst aus. Aurelia sandte ein Stoßgebet zum Himmel.
»Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die Bernsteintriskele meiner Mutter gehört hat«, erklärte Stefano.
So stur wie eh und je, dachte Aurelia.
»Aber mir ist klar, dass Antonio nicht das Recht hatte, sie ihr zu geben.«
»Also?«
»Also würde ich sie gern finden. Ich möchte das Rätsel meiner Mutter lösen.« Er hielt inne und erwiderte Marcos Blick. »Meinetwegen kann Sara Timpone das Schmuckstück haben. Marco hat Recht. Es hat nichts als Ärger gebracht.«
Aurelia konnte sich dem nicht ganz anschließen. Die Bernsteintriskele – beziehungsweise, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, ihre Kopie – hatte sie auf ihrem Lebensweg begleitet und ihr geholfen, dieses Land, diesen Mann und ihre wahre Bestimmung zu finden – die Erfüllung als Künstlerin. Und sie hatte ihre Enkelin hierher geführt. Aurelias Weg war nicht leicht gewesen, da die Vergangenheit lange Zeit schwer auf ihr gelastet hatte, doch nun spürte sie eine nie gekannte Entschlossenheit. Sie hatte Frieden gefunden.
»Sehr gut.« Enrico und Aurelia ließen sich wieder auf der Bank aus Olivenholz nieder. »Dann lass uns das Rätsel hören.«
Langsam und deutlich las Stefano vor:
Auf der Reise zur Entdeckung,
Wenn du suchst nach deinem Weg,
Zur Spirale in Spirale,
Wo gewund’nes Holz vergraut;
Dort im Schatten jenes Dunkels,
Wo Geheimes wird erzählt,
Schläft die stumme edle Frau,
Duftet sonndurchglühtes Gold.
Einen Augenblick herrschte Stille.
Cari fragte sich, für wen dieses Rätsel gedacht war, wen Catarina mit der Suche nach dem Bernsteinanhänger hatte beauftragen wollen.
»Zur Spirale in Spirale …« Stefano sah Aurelia an.
»Damit ist wohl die Stelle gemeint, an der wir uns gerade befinden, das Herz des Labyrinths.«
»Und die stumme edle Frau ?«, fragte Aurelia.
»Das muss die Bernsteintriskele selbst sein«, mutmaßte Cari. »Duftet sonndurchglühtes Gold …« Sie erinnerte sich an Saras Worte gestern Nachmittag in dem düsteren Zimmer. »Sara hat mir erzählt, dass Bernsteine einst als die versteinerten Tränen der Heliaden galten, der Töchter des Sonnengottes. Erinnerst du dich, Marco?«
»Wie könnte ich das vergessen?« Er stand ein wenig abseits, als mache er sich absichtlich zum Außenseiter. Cari fragte sich, wie er sich wohl fühlen mochte bei der Aussicht, den von ihm so lange gesuchten antiken Talisman womöglich zu finden. »Und du hast gesagt, dass Bernstein beim Verbrennen himmlisch duftet«, fügte sie nachdenklich hinzu.
Sie sog die Gerüche des Labyrinths ein. Auch der Sternjasmin verströmte
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