Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
Tasse wieder auf der Untertasse ab und schmatzte genüsslich. Sie drückte Caris Hand. »Manche Menschen, meine Liebe«, sagte sie, »können eben niemals verzeihen.«
K
apitel 18
Es war ein warmer, sonniger Mainachmittag. Festivalzeit in Brighton. Cari war auf Marcos Vorschlag eingegangen, sich ein wenig in der Stadt umzusehen und Festivalluft zu schnuppern. Im Stadtviertel North Laine drängten sich die Menschen um die verschiedenen Straßentheater, deren Aufführungen unter dem Motto »Streets of Brighton« stattfanden. In ihrer Nähe übten sechs Frauen in Motorradkluft auf Einrädern eine Tanzfigur. Marco fielen fast die Augen aus dem Kopf. Am Ende der Straße lauerte eine riesige, über sechs Meter hohe schwarze Spinne mit dicken Beinen, deren Anblick Cari Gänsehaut bereitete, und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, steuerte auch noch ein mit einer Wasserpistole bewaffneter Roboter auf dem Gehsteig direkt auf sie zu. Cari kreischte auf und ging hinter Marco in Deckung, der eine Ladung Wasser abbekam.
Er lachte. »Das ist ja wie im Karneval!«
»Es ist total irre!« Sie gesellten sich zu einer Gruppe, die sich um einen »Stierkampf« geschart hatte. Aus einem kleinen schwarzen Lautsprecher dröhnte spanische Musik. Zwei Matadore in voller Montur schwenkten mit dramatischen Gesten rote Tücher vor einem elektrisch betriebenen Stier, der nur wenige Zentimeter groß war.
»Ist der Karneval in Italien auch so?«, fragte Cari, als sie weiterschlenderten.
»Nicht ganz.« Er nahm ein Glas mit in Olivenöl eingelegten Paprikaschoten von einem Marktstand und wog es gedankenverloren in der Hand. »In Ligurien verkleidet man sich auch, aber ganz anders.« Er nickte. »Man tanzt auch, ja, und musiziert.« Er betrachtete sie ernst. »Und die Stiere sind höchstwahrscheinlich keine Spielzeugstiere.«
Das war nicht weiter erstaunlich. Sie blickte auf das Glas in seiner Hand. »Erinnert es dich an zu Hause?«
»Sì, sì …« Seine schwarzen Augen verrieten ihr, dass er sich im Augenblick weit weg von ihr und North Laine befand. Der Anblick der roten Paprika hatte ihn in ein heißes, staubiges italienisches Dorf mit einem Brunnen und einem Olivenbaum versetzt. Wer wartet dort wohl auf ihn?, fragte Cari sich. Wer ist ihm in Italien so wichtig?
Sanft berührte sie seinen Arm. »Vermisst du deine Leute sehr?«
»Was sagst du da?« Er lachte. Das schalkhafte Glitzern kehrte in seine dunklen Augen zurück. Der traurige Moment war vergessen. »Wie kann ich mein Zuhause vermissen, wenn ich hier lebe, in einer so aufregenden und bunten Stadt?« Er streckte den Arm aus und meinte mit dieser Geste ganz Brighton – die Theater, die Geschäfte und die Menschen. Cari empfand es ebenso. Hier herrschte eine geradezu überschäumende Lebensfreude, und das nicht nur während des Festivals. Überall in North Laine fanden sich Läden mit handgearbeitetem Silberschmuck und exotischen Kunstgegenständen aus Afrika – Überwürfe, handgewebte Kelims, Holzmöbel und blank polierte Statuen – Seite an Seite mit Kostümverleihern, die vor allem Kostüme in den Nationalfarben Rot, Weiß und Blau sowie aus glitzernden Stoffen führten, und mit Markthändlern, die alles von verrückten Sonnenbrillen bis hin zu eingelegtem Knoblauch anpriesen. In anderen Geschäften konnte man Jonglierbälle, Rollerblades und Kleidung aus längst vergangenen Epochen erstehen. North Laine bot alles, was schräg und ausgefallen war. Ein Einkaufsparadies für Bohemiens, die in Scharen herbeiströmten – Schallplattensammler, Gourmets, Studenten und andere Schnäppchenjäger.
»Und wenn ich hier durch die Stadt laufe … mit einer so schönen Frau wie dir«, fuhr er fort.
Cari deutete einen Knicks an. »Der Herr ist zu gütig.«
»Die Signorina ist zu liebenswürdig.«
Ihre Blicke trafen sich.
Er wandte sich als Erster ab. Sie kamen am Bühneneingang des Theatre Royal vorbei. Die Sonne schien ihnen ins Gesicht, und er zog die Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Hemdes. Cari musterte ihn von der Seite. Mit der dunklen Brille erschien er ihr noch geheimnisvoller als zuvor. Aber sie wollte dieses Rätsel Marco lösen. Wollte seine Meinung über Italien und andere Dinge hören. Sie wollte nicht nur den Marco kennen, der sich nach außen präsentierte mit dieser Fassade aus gewinnendem Charme. Sie wollte den Marco dahinter ergründen – was immer da auch zum Vorschein treten mochte.
Er unterbrach ihre Gedanken. »Hast du inzwischen etwas
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