Das Erbe des Alchimisten
einen Menschen bewegt er sich unglaublich schnell. Ich werfe die Vase auf ihn, um ihn mit einer Scheinattacke abzulenken, aber er scheint damit gerechnet zu haben, duckt sich und wartet offenbar auf meinen richtigen Angriff. Im nächsten Moment springe ich, kicke meinen rechten Fuß hoch in die Luft und ziele mit dem Absatz auf sein Kinn – den empfindlichen Punkt, den auch Boxer bei ihren Kämpfen immer wieder anpeilen. Ein richtig gesetzter Stoß wird ihn schachmatt setzen.
Doch mein menschlicher Körper enttäuscht mich einmal mehr. Mein Sprung ist zu kurz, mein Fuß berührt sein Kinn kaum. Der Tritt läßt ihn zurückstolpern, aber setzt ihn keineswegs k.o. Er wischt sich über das Gesicht, und ich sehe, daß sein Blick voller Haß ist.
»Wo hast du das gelernt?« will er wissen.
»In einer Gesprächstherapie«, sage ich und beginne ihn zu umkreisen. Das Überraschungsmoment habe ich verloren. Er behält meine Füße im Auge, während er mit dem Messer näherkommt. Er ist gut trainiert, das fällt mir auf. Er attackiert nicht wahllos, sondern plant seinen Angriff genau. Ein solcher Angriff mit seinem Messer schlitzt meinen rechten Handrücken auf. Schmerz durchzuckt mich, ich spüre ein entsetzliches Brennen, alles ist voll von meinem Blut. Doch ich schaffe es, mein Gleichgewicht zu halten, umkreise ihn weiter und suche nach einem Ausweg. Seine Verteidigung ist hervorragend, und seine Arme kommen nie zur Ruhe. Ich weiß, daß ich nicht zulassen darf, daß er mein Bein schnappt. Vermutlich würde er mir den Fuß absägen – und mich dabei zusehen lassen.
Dann macht er einen Fehler. Er sucht meinen Blick, und ich lese in seinen Augen, was er vorhat. Meine erste Reaktion ist einfach: Ich ducke mich. Dann, nachdem das Messer gerade die Luft über meinem Kopf zerteilt hat, richte ich mich auf und treffe seine Schienbeine mit meinem linken Fuß. Es ist ein Stoß aus dem asiatischen Kampfsport, sehr alt und sehr wirkungsvoll. Billy, oder wie auch immer er heißen mag, stürzt zu Boden, und im nächsten Moment bin ich über ihm. Als er versucht, sich zu erheben, trete ich ihm ins Gesicht und dann in den Brustkorb. Er stürzt hinterrücks auf den Beistelltisch, sein Messer gleitet auf den blutbefleckten Teppich, und ich kicke es weit fort. Er liegt auf dem Rücken, atmet mühselig und starrt mich entsetzt an. Ich stehe über ihm und verspüre dieses wohlvertraute Gefühl des Triumphes, das ich von früher kenne. Ich trete auf sein linkes Handgelenk und nagle ihm damit den Arm auf den Boden.
»Ich kann sehr wohl Klavier spielen«, sage ich. »Wenn du eins hier hättest, würde ich dir zu deinem Tod Mozarts Requiem spielen, bevor ich dir den Rest gebe.«
In seinen Augen ist noch immer dieses merkwürdige Glitzern. »Ist dein Name wirklich Sita?«
»Ja.«
»Wie alt bist du? Du bist älter, als du aussiehst, nicht wahr?«
»Ja. Wie alt bist du, und wie wünschst du dir deinen Tod?«
Er grinst. »Ich werde nicht sterben.«
»Nein?«
»Nein.«
Und damit zieht er, bevor ich noch irgendwie reagieren kann, einen silberbeschlagenen Revolver hervor und richtet ihn auf meinen Kopf. »Nicht heute nacht jedenfalls, Sita.«
Einmal mehr ärgere ich mich über mich selbst – darüber, daß ich ihn nicht gleich ins Reich der Träume befördert habe, als er hilflos war. Ich weiß sehr wohl, wo mein Problem liegt. Ich bin daran gewöhnt, ein wenig mit meinen Opfern zu spielen, ein Luxus, den ich mir jetzt, wo ich sterblich bin, nicht länger leisten kann. Es gibt keinen Weg, die Kugel aufzuhalten, die er mir gleich ins Gehirn pusten wird. Jetzt bestimmt er die Spielregeln. Ich nehme meinen Fuß von seinem Handgelenk und trete ein paar Schritte zurück. Er erhebt sich langsam, wobei er mich genau beobachtet. Er ist niemand, der zweimal den gleichen Fehler macht, das beweist der Geruch, der in diesem Haus in der Luft hängt.
»Wie viele Mädchen hast du hier fertiggemacht?«
»Zwölf. Und die jüngste war erst fünf.« Er grinst. »Du wirst die Nummer dreizehn sein. Eine Unglückszahl, besonders für dich, findest du nicht?«
»Ich wäre mir noch nicht so sicher.«
Er fuchtelt mit seiner Waffe. »Auf die Knie. Und laß die Hände auf deinem Kopf. Keine plötzlichen Bewegungen.«
Ich tue, was er von mir verlangt. Ich hätte ohnehin keine andere Wahl. Das Blut aus der Wunde in meiner Hand tropft auf mein Haar und rinnt über mein Gesicht. Einmal mehr weine ich rote Tränen – wie damals, als ich noch Vampir war. Meine Situation ist
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