Das Erbe des Blutes - Roman
einer aus, der sich zu lange vor der Himmelstür aufgehalten hatte.
»Woran ist er dann gestorben?«
»An Herzversagen.«
»Sicher?«
»So gut wie sicher. Was dazu geführt hat, ist mir allerdings nicht ganz klar. Die inneren Organe waren alle in gutem Zustand, das Herz auch. Sieht so aus, als ob es einfach stehen geblieben ist. Wir haben ein paar Proben zur Toxikologie geschickt. Da könnten wir mehr Hinweise bekommen.«
Foster sah sich die Leiche an, die gepflegten Hände und Füße, die reine Haut. »Kommt Ihnen das nicht merkwürdig vor? Ein Obdachloser in Topverfassung? Weder ein vergrößertes Herz noch Leberzirrhose oder Blut dicker als Haferbrei? Was hat der auf der Straße getrunken? Queckensaft?«
Carlisle verzog das Gesicht. »Ich kann Ihnen nur etwas auf der Grundlage dessen sagen, was ich sehe: Sein Körper ist in guter Verfassung, genau wie man es bei einem gesunden Mann um die vierzig erwarten würde. Obwohl es Hinweise gibt, dass er Drogen genommen hat, worauf ein paar Einstiche am Arm hindeuten. Er kann natürlich auch Diabetiker gewesen sein …« Carlisle verstummte und hob den Arm der Leiche an. »Das Zeichen wurde mit einem kleineren Werkzeug als bei Darbyshire eingeritzt.«
»Wie beispielsweise einem Stanley-Messer?«
»Vom Gebrauch her stimmt es damit überein, ja.«
»Also gab es den Hinweis, aber keine Stichwunde und keine Verstümmelung?«
Carlisle schüttelte den Kopf. »Ich habe mir die Leiche von oben bis unten genau angesehen. Er hat noch sämtliche Fingernägel, Wimpern und Zähne.«
Warum dieses inszenierte Hängen, fragte Foster sich. Es gab keinen Grund, diesen Mord zu vertuschen, nicht nachdem
der Täter eine Nachricht auf dem Körper hinterlassen hatte. War da was schiefgelaufen?
Carlisle entledigte sich mit einem energischen Schnappen seiner Handschuhe. »Ich brauche eine Tasse Kaffee«, sagte er. »Danach muss ich mich noch mit einer anderen Leiche beschäftigen. Sind Sie mit von der Partie?«
»Ja zum Kaffee, nein zur Leiche. Jedenfalls nicht, bevor Sie damit fertig sind.«
Die beiden Männer wandten sich zur Tür. Foster blieb stehen.
»Sind Sie mit dem Kerl fertig?«
»Mehr kann ich vorerst nicht machen, nicht bevor ich die Ergebnisse aus der Toxikologie habe.«
»Gut. Wenn das für Sie okay ist, hätte ich draußen jemanden, der ihn sauber macht.«
Carlisle reagierte ungehalten. »Er ist schon gründlich gewaschen worden.«
Foster schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich meine eine andere Art von Säuberungsaktion.«
Die Einbalsamiererin arbeitete sehr sorgfältig und behutsam. Sie war eine unscheinbare, mütterlich wirkende Frau mit einem freundlichen Mondgesicht, das so gar nicht zu ihrem Beruf zu passen schien.
»Manchmal rede ich bei der Arbeit gern mit ihnen«, hatte sie Foster bei ihrer Ankunft gewarnt.
»Nur zu«, erwiderte er. »Glaube nicht, dass Sie groß Antwort bekommen werden.«
Sie streichelte über das verfilzte, schmutzige Haar des Toten. »Du siehst ganz schön mitgenommen aus, was?«, sagte sie mit einer Singsangstimme.
Sie holte die Düse, die zum Abspritzen der Tische benutzt
wurde. Das Gesicht des Toten mit der Hand schützend, befeuchtete sie die Haare mit ein paar Spritzern. Dann gab sie Shampoo darauf und massierte es in kreisförmigen Bewegungen ein. Danach spülte sie es mit der Düse ab, zog einen Kamm aus der Tasche und glättete das Haar, indem sie die Nester darin mit ein paar kräftigen Rucken löste. Anschließend begann sie mit einer Friseurschere zu schneiden.
»Kann nicht behaupten, dass ich schon mal jemandem nur die Haare schneiden und ihn rasieren musste«, sagte sie, ohne Foster dabei anzusehen. »Das mache ich normalerweise als Letztes, nachdem sie vorbereitet worden sind. Natürlich nur, wenn’s nötig ist.«
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich.
»Nein, ehrlich gesagt ist das eigentlich ganz schön so. Ich hab das früher öfter getan, als es noch offene Särge oder Leichenschauen gab und man die Verstorbenen so gut es ging zurechtmachen musste. Aber das wird immer weniger. Die Leute möchten ihre Verwandten und Freunde nicht mehr sehen, sobald sie gestorben sind. Der Tod hat keinen Platz in ihrem Leben.«
Einen Moment lang erinnerte sich Foster daran, wie er beim Leichnam seines Vaters Totenwache gehalten hatte. Von Berufs wegen hatte er unzählige Leichen gesehen, aber durch nichts war er auf den Anblick des leblosen Körpers des Menschen vorbereitet, den er am meisten geliebt und verehrt
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