Das Erbe des Blutes - Roman
das?«
»Nicht das hier , nicht genau die gleichen Ereignisse.«
»Was denn dann?«, fragte Foster verwirrt.
Nigel zuckte nicht mit der Wimper. Begeisterung erfasste ihn, seine Hände tanzten beim Sprechen. »Die Vergangenheit ist lebendig: Sie ist immer gegenwärtig. Die meisten sind sich dessen nicht bewusst, ignorieren es einfach. Aber sie ist wirklich da. Sie können das Vergangene nicht verdrängen, es einfach vergessen. Schauen Sie sich doch mal diesen Fall an. Für mich steht fest und, wie mir scheint, für Sie auch, dass sich 1879 eine schreiende Ungerechtigkeit zugetragen hat. Die Welt hat das vergessen oder es zumindest versucht. Angeblich hatte die Gerechtigkeit ihren Lauf genommen. Aber Sie können davon ausgehen, dass jeder, der versucht, die Vergangenheit zu verdrängen, eine Leiche im Keller hat.«
Foster erinnerte sich an seinen Vater, diesen einstigen Hünen, der in den Wochen vor seinem Tod zu einem gebrochenen und zermürbten Mann wurde.
Nigel fuhr fort. »Aber so funktioniert das nun mal nicht; man kann die Vergangenheit nicht einfach begraben und als Geschichte abtun. Wenn jemand auf See ertrinkt, kann es lange dauern, bevor der Körper irgendwo angespült wird.
Niemand weiß, wo oder wann. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass das Meer früher oder später die Toten freigibt.
Es hat mehr als hundertfünfundzwanzig Jahre gedauert, aber auch die Ereignisse von 1879 sind schließlich ans Licht gekommen.«
Nigel sah Foster nach, als dieser sich auf den Weg zu seinem Team im Hochhaus machte. Was Nigel über die Allgegenwärtigkeit der Vergangenheit gesagt hatte, schien ihn berührt zu haben. Er hatte schweigend und mit gesenktem Blick dagesessen, ehe er mit der flachen Hand auf den Tisch schlug und sich zum Aufbruch erhob. Bevor er ging, bat er Nigel noch, die Nachkommen von Eke Fairbairn ausfindig zu machen. Der Mann war malträtiert, trotz ungenügender Beweise verurteilt und schließlich gehenkt worden. Gab es irgendjemanden, der sich für die Misshandlungen und den Tod seines Vorfahren rächen wollte?
Nigel verließ den Lesesaal. Im Verlauf des Nachmittags hatte er immer wieder mal Dave Duckworth entdeckt. Wenn er zu ihm hinübersah, wandte sich dieser stets ab, was bewies, dass er ihr Tun verfolgte.
Er ging zu einer Reihe von Computerterminals, wo er online die Ergebnisse der Volkszählungen abfragen konnte. Als er Platz nahm, spürte er ein leichtes Tippen auf seiner Schulter.
»Wer war dein Freund?«
Er wandte sich um. Es war Duckworth.
»Ich bin hier am Arbeiten, Dave.«
»Ein Privatkunde?«
»So was in der Art.«
»Nur dass er wie ein Polizist aussah.«
Nigel starrte ihn an, sagte nichts.
»Vielleicht hast du ja jetzt Polizeischutz.«
Was wollte der eigentlich?
»Vielleicht hat ja jemand einen Killer auf dich angesetzt.« Ein Lächeln umspielte seine fettigen Lippen. »Vielleicht die Familie einer heiratsfähigen Geschichtsstudentin.«
Nigel stieß seinen Stuhl zurück und stand auf. »Du hast wohl mit Gary Kent gesprochen?«
Duckworth trat mit erhobenen Händen theatralisch den Rückzug an, dabei huschte sein Blick nach rechts und links. »Nur keine Panik. Kent hat mir von deinem Ärger mit der Frau an der Uni erzählt. Für so jemanden hatte ich dich eigentlich nie gehalten.«
»Was meinst du denn mit so jemandem, Dave? Sie war eine erwachsene Frau, neunundzwanzig Jahre alt, zwei Jahre jünger als ich. Eine Erwachsene. Also hör auf, mich für jemanden zu halten, der jungen Frauen nachstellt. Schluss damit. Und sag deinem Kumpel Kent, er soll sich gleichfalls verpissen.«
Die Gehässigkeit in seiner Stimme und diese Art von Flüchen, die er sonst nur äußerst selten einsetzte, schockierten ihn selbst. Die Umsitzenden hatten sich von ihren Schirmen abgewandt und starrten ihn an. Ein Wachmann tauchte neben ihm auf.
»Ich muss Sie bitten, leiser zu sprechen und auf Ihre Wortwahl zu achten, Sir«, sagte er. »Andernfalls muss ich Sie des Hauses verweisen.«
Nigel starrte Duckworth weiter an, aber er nickte dem Wachmann zu und setzte sich wieder hin. Duckworth nahm neben ihm Platz.
»Dave, ich bin noch nie aus einem Archiv geschmissen worden. Aber im Moment ist es mir das fast wert, wenn ich dafür die Genugtuung bekomme, dir eine in die Fresse
zu hauen«, zischte er. Er hatte in seinem Leben noch niemanden geschlagen, doch seine Drohung meinte er todernst.
»Tut mir leid«, sagte Duckworth. »Da bin ich wohl zu weit gegangen. Takt war noch nie meine Stärke,
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