Das Erbe des Bösen
zerstörter Lastwagen, Geschütze und Panzerfahrzeuge an den Straßenrändern, Berge von Waffen der Soldaten, die sich ergeben hatten, und spindeldürre deutsche Flüchtlingskinder, die bei den Amerikanern um etwas zu essen bettelten: »Hunger! Brot! Bitte! Bitte!«
Ruinen, Chaos, junge, einbeinige Männer auf Krücken, Frauen mit leerem Blick, Menschen, die alles verloren hatten. Das war |170| eine echte Götterdämmerung, keine Schlussszene einer Wagner-Oper.
Die Amerikaner hatten mit einem unfassbaren logistischen Alptraum zu kämpfen: Wie sollten sie Millionen von Kriegsgefangenen und Millionen von Zivilisten und Flüchtlingen in der Stunde Null nach dem Untergang des Deutschen Reiches ernähren? Wie viele Deutsche erinnerten sich jetzt noch an Hitlers Worte nach der Machtergreifung: »Gebt mir zehn Jahre, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen.«
Zwölf Jahre danach lagen ganz Deutschland und halb Europa in Trümmern.
In Darmstadt bekam Rolf schließlich seinen »endgültigen Aufenthaltsort« zugewiesen – eine ehemalige Nervenheilanstalt, die zur Verwahranstalt für S S-Offiziere , S S-Unteroffiziere und andere mutmaßliche Naziverbrecher umfunktioniert worden war.
Naziverbrecher
. Das war noch schlimmer als das andere Schimpfwort. Sollte er, Rolf, zu den Naziverbrechern gehören?
Ich werde ihnen offen und ehrlich alles erzählen, was sie über meine Arbeit in Berlin wissen wollen, hoffentlich genügt ihnen das, dachte Rolf deprimiert. Jedenfalls konnte doch wohl niemand behaupten, dass er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hätte.
Über seinen letzten Auftrag musste er jedoch schweigen. Er würde einfach sagen, dass er nicht gewusst hätte, wozu ihn die SS verpflichtet hatte. Ob sie es glaubten oder nicht. Vielleicht war etwas versteckt worden, aber er hatte nicht gesehen, was und wo . . .
Seufzend drehte er sich auf seiner Matratze auf die Seite. Wenn Hans nur über das alles geschwiegen hätte! Hatte er womöglich seinem Bruder und Nazisympathisant Arno etwas von dem Versteck erzählt? War es möglich, dass Hoffmann etwas mit diesen faschistischen Vereinigungen zu tun hatte, die das Erbe der SS hochzuhalten versuchten?
Das erschien ihm ziemlich unwahrscheinlich. Es musste etwas anderes sein.
|171| Aber alles Grübeln wäre die reinste Zeitverschwendung. Die nackte Wahrheit lautete, dass er, Rolf Narva, seine Informationen an Hoffmann weitergegeben hatte – ungeachtet dessen, was dieser vorhatte.
|172| 24
Jenny Petterson hatte vier ergiebige Urlaubstage in St. Petersburg gehabt. Mit ihren Freundinnen Sofia, Mia und Linda, die wie Jenny in Stockholm Architektur studierten, hatte sie bereits den Peterhof, Tsarskoje Selo und Pawlowsk bewundert. Aber nicht nur die Paläste, sondern die Stadt an sich war schon ein Erlebnis, fanden sie.
Es machte Spaß, darin zu konkurrieren, wer die von italienischen Architekten wie Rastrelli, Brenna und Quarenghi oder von russischen Meistern wie Starow, Woronichin oder Sacharow entworfenen öffentlichen Gebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert identifizieren konnte. Jenny triumphierte, als ihr als erster einfiel, dass es der Franzose Auguste Montferrand gewesen war, der die Isaak-Kirche und die Alexander-Kolonnaden gebaut hatte.
Sie hatten gerade die Newa auf dem Weg von der Wasilij-Insel in den Stadtteil Petrograd überquert, als Jenny noch einmal ihre kleine Videokamera aus der Tasche nahm. Der Akku war fast leer, aber vielleicht konnte sie die letzten Minuten noch dafür verwenden, ihre Freundinnen vor der Silhouette der Peter-und-Paul-Festung zu filmen. Beim Tierpark gab es dafür eine gute Stelle.
»Jetzt winkt noch mal, Mädels, der Akku ist gleich leer!«, konnte sie gerade noch sagen, da lenkte ein hoher, schneidender Ton am Himmel alle Aufmerksamkeit auf sich.
»Ich glaub, ich spinne!«, rief Linda. »Was ist ’n das?«
Jenny richtete die Kamera auf den Himmel im Norden, und gleich darauf tauchte ein länglicher Gegenstand auf, eine Art riesiger, dicker Speer, der vom wolkenlosen Himmel herabstürzte und im ungefähr einen Kilometer entfernten Park verschwand.
|173| Es war nichts zu hören, trotzdem schienen die Menschen ringsum in Panik zu geraten. Die Einheimischen stießen erschrockene, ungläubige Rufe aus, von denen Jenny zumindest die Worte
»Amerikanski«
und
»Eata bila vaina?«
erkannte.
Für einen Moment waren die Petersburger felsenfest davon überzeugt, die USA hätten einen Angriff gegen ihr Land gestartet – und einen
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