Das Erbe des Greifen
weiterkommt!«, rief der Soldat und begann auch das Tor zur Stadt zu verschließen. Die drei Freunde ließen sich nicht noch einmal bitten.
»Das war knapp«, stellte Garret fest, als auch das zweite Fallgitter herabgefallen war. »Was meint ihr … werden nun auch die anderen Tore geschlossen sein?«
»Bestimmt«, erwiderte Tarlon und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »So schnell kommen wir nicht mehr aus Berendall heraus.«
»Und was machen wir nun?«, fragte Vanessa.
»Zurück zum Gasthof, unsere Waffen holen. Dann sehen wir weiter«, meinte Garret.
»Wo sind nur all die Leute hin?«, wunderte sich Vanessa, als sie über den Marktplatz rannten. Er war fast menschenleer, nur hier und da bemühten sich einige Händler verzweifelt, ihre kostbarsten Waren in Sicherheit zu bringen, während sich wenige Meter entfernt bereits die ersten Plünderer an verlassenen Ständen zu schaffen machten.
»Sie haben sich in ihren Häusern verkrochen«, vermutete Tarlon keuchend. »Nicht die schlechteste Idee, wenn man angegriffen wird!«
Im nächsten Moment riss er Garret zurück, als dieser beinahe vor einen schweren Pferdewagen gelaufen wäre, der abenteuerlich schnell um die Ecke gefahren kam und zum Richtplatz weiterfuhr. Als dieser in Sicht kam, pfiff Garret leise durch die Zähne. Denn vor dem Galgen dort stand bereits ein anderer Wagen, der gerade entladen wurde. Noch immer hingen die Toten am Galgen, doch statt die Menschen einzuschüchtern, schienen sie ihnen nun Mahnmal und Ansporn zugleich zu sein. Denn gut vier Dutzend Bürger der Stadt hatten sich am Fuße des Galgens versammelt und rissen den Stadtwachen auf den Wagen förmlich aus der Hand, was diese von dort oben verteilten: nämlich Waffen und Rüstungen.
Tarlon stützte sich schwer atmend auf Händen und Knien ab und sah zu, wie sich die Bürger gegenseitig in die Rüstungen halfen.
»Bilde ich es mir nur ein, oder tun sie das nicht zum ersten Mal?«, fragte er dann.
Garret nickte, während gut zwei weitere Dutzend Bürger aus einer Gasse heraus auf den Richtplatz zuliefen und ein Soldat der Stadtwache die fertig Gerüsteten in kleinere Gruppen aufteilte.
»Du hast Recht, das sieht so aus, als hätten sie es öfter geübt«, meinte er dann. »Und schau, da kommen noch mehr Freiwillige!« Mit einem Mal lachte er laut auf. »Tarlon, Vanessa, versteht ihr, was hier geschieht? Das war der Plan des Grafen! Wir haben uns gefragt, wieso er nichts unternimmt, um die Stadtwache zu verstärken … hier sehen wir nun, was er insgeheim getan hat!«
»Garret!«, rief Vanessa in dem Moment mit schreckgeweiteten Augen. »Hinter dir!«
Eigentlich war es unmöglich, aber in der Straße, die wenige Augenblicke zuvor noch leer gewesen war, standen plötzlich königliche Soldaten, die bereits zum ersten Schlag ausholten, und zwischen ihnen lief ein Priester hin und her, der hämisch grinste. Sie zog ihr Schwert, warf sich nach vorne, und konnte gerade noch die Wucht des Schlages mildern, der auf Garrets Schläfe zielte. Doch es reichte nicht. Blutüberströmt brach Garret zusammen, wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Vanessa wehrte einen Streich ab, duckte sich unter dem nächsten hindurch, doch ein dritter Soldat warf einen schweren Spieß nach ihr. Er hätte sie durchbohrt, hätte Tarlon sich nicht dazwischen geworfen. Nun ragte die blutige Spitze des Speers aus seinem Brustkorb hervor, und er stand nur da und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, dann zog jemand den Speer aus seinem Oberkörper heraus, und er brach leblos zusammen.
Mit einem markerschütternden Schrei hob Vanessa ihr Schwert in die Höhe. Dann sauste die schwarze Klinge auf und nieder, und ein roter Schleier trübte ihre Sicht. Es war, als ob die gesamte Welt still stand. Sie schrie, auch wenn sie sich selbst nicht hören konnte; wieder und wieder tanzte die schwarze Klinge unter anderen Klingen hindurch, suchte Lücken und fand noch die kleinsten, durchstieß hier einen Halsansatz, schnitt dort von hinten durch ein Knie, fand woanders ihren Weg durch den Schlitz eines Visiers.
Sie sah in die angstverzerrten Fratzen von Soldaten, die vor ihrem Ansturm zurückwichen, Angst und Panik in den Augen derer, die ihr das angetan hatten, sie sah, doch sie nahm nicht wahr, wer da vor ihr fiel wie Ähren vor dem Schnitter. Sie waren nicht wichtig, denn sie verstellten ihr nur den Weg zu ihrem Ziel. Der Letzte stürzte rücklings aus ihrem Blickfeld, und dort stand er dann,
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