Das Erbe des Vaters
Hexe eingebracht hatte. Sie sollte Mrs. Vellacott gegenüber teilnehmend sein, ermahnte sich Evelyn, nicht gereizt und ungeduldig.
Bei ihrer Heirat mit Osborne Daubeny im Jahr 1930 hatte sie ein ganzes Heer von Dienstboten beschäftigt, Köchin, Küchenmädchen, Zimmermädchen, Gärtner und Hilfsgärtner. Doch Swanton Lacys Personalbestand war die dreißiger Jahre hindurch unerbittlich geschrumpft, bis der Krieg, der den Frauen ungeahnte berufliche Möglichkeiten bot, den Daubenys nur noch den alten Fryer gelassen hatte. Während des Krieges hatte Evelyn selbst gewaschen, geputzt und gekocht. Das Kochen hatte ihr sogar richtig Spaß gemacht, auch wenn es wegen ihrer Unerfahrenheit und Ungeschicktheit verschiedentlich zu kleineren und größeren Katastrophen gekommen war. Noch heute unterhielt Osborne seine Gäste beim Abendessen gern mit der Geschichte von der Kartoffelexplosion. Die Gäste pflegten sich krumm- und schiefzulachen, wenn Osborne erzählte, daß Evelyn in ihrem Eifer nicht daran gedacht hatte, das Ventil zu öffnen, um den Dampf aus dem Dampfkochtopf entweichen zu lassen, und die Kartoffeln daraufhin beim Öffnen des Deckels mit wahrhaft vulkanischer Kraft an die Küchendecke geflogen und dort oben kleben geblieben waren.
Seit Ende des Krieges hatte Evelyn eine Köchin nach der anderen eingestellt, mittlerweile bestimmt ein Dutzend an der Zahl, aber keine hatte genügt. Dreimal in der Woche kam eine Frau aus dem Dorf, um bei den schweren Arbeiten zu helfen, aber eigentlich kam Evelyn nur zurecht, indem sie an allen Ecken und Enden sparte. Sie war da im übrigen nicht die einzige. Als sie das letzte Mal bei den Middletons gewesen waren, die in Swanton Le Marsh wohnten, hatten sie in der Küche gegessen. In der Not kann man eben nicht wählerisch sein, hatte Clare Middleton erklärt, als sie ihre Gäste an den alten Holztisch gebeten hatte, und wir sitzen ja alle im selben Boot, nicht wahr? Evelyn hatte die Zwanglosigkeit gefallen, aber Osborne hatte geschäumt und sich auf der ganzen Heimfahrt über die Kulturlosigkeit der Middletons aufgeregt.
Jetzt strich sie mit dem Finger prüfend über die dunklen, polierten Holzflächen, und als sie ihre Fingerspitze ansah, war diese grau, obwohl das Zimmer erst zwei Tage zuvor gründlich reine gemacht worden war. Swanton Lacy war immer ein staubiges Haus gewesen; bei Sonnenschein konnte man die Staubflöckchen in den Lichtstrahlen schweben sehen. Nicht, daß die Sonne je in dieses fensterlose Zimmer vordrang. Evelyn wischte mit einem Staubtuch über den Tisch und fröstelte vor Kälte und aus ängstlicher Nervosität, die sie auch heute noch, nach dreiundzwanzigjähriger Ehe, vor einer Dinnerparty zu erfassen pflegte.
Lächerlich, sagte sie sich ungeduldig. Nimm dich zusammen. Denk daran, was andere Frauen durchgemacht haben. Denk an die Konzentrationslager und die Atombomben und all die anderen schlimmen Begleiterscheinungen des Krieges. Denk daran, was manche Frauen aus dem Dorf ertragen müssen. Sie wohnen in schäbigen kleinen Häusern und haben Männer, die trinken oder ständig mit einem Bein im Gefängnis stehen. Und diese arme Frau in Swanton St. Michael, die letzten Sommer ihr Kind durch Kinderlähmung verloren hat …
Aber wenigstens hat sie einmal ein Kind gehabt, sagte die kleine zornige Stimme in ihr, die, während sie älter wurde, eher lauter wurde als leiser. Wenigstens ist sie einmal Mutter gewesen. War es nicht besser, geliebt und verloren zu haben?
»Du weißt ja nicht, was du redest«, sage Evelyn laut zu sich selbst. Sie wischte mit dem Staubtuch ein letztes Mal ungehalten über den Tisch, dann ging sie hinaus.
Celia war spät dran. Evelyn, die im Restaurant des Kaufhauses Debenham & Freebody auf sie wartete, sah auf ihre Uhr. Celia Buckingham war ihre älteste Freundin; sie kannten sich seit ihrer Schulzeit. Als Evelyn die Freundin an der Tür zum Restaurant erblickte, stand sie auf und winkte. Celia trug ein knallrotes Ensemble, das gut zu ihrem brünetten Typ paßte. Evelyn trug niemals rot; es machte sie blaß.
»Darling!« Celia umarmte sie. »Entschuldige die Verspätung.« Sie wirkte verwirrt und nervös. »Hast du schon bestellt?«
»Nein.«
»Es war alles ein bißchen –« Celia brach ab.
Evelyn sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Alles in Ordnung?«
Celia kramte in ihrer Handtasche, nahm ihre Lesebrille und ihre Zigaretten heraus. »Alles in Ordnung. Alles bestens.« Dann verzog sie plötzlich das Gesicht,
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