Das Erbstueck
Unrat oder ein hergelaufener Blaumaler in seiner abgrundtiefen Verliebtheit ihre Lebensfreude berühren konnten.
Deiner Oma wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Du wurdest erwürgt, Oma, du wurdest erwürgt von grauen Tagen, und am Ende wurdest du lächerlich in deinem Drang, alles
mit Farbe zu versehen. Hassen sie dich deshalb so? Liegt es daran?«
Der Zitronenextrakt im nächsten Glas schmeckte nach künstlichen E-Stoffen, und ich sah ein, dass die Sache zu Ende war. Ich verpackte alles. Ich wollte kein Kostüm stehlen. Das Museum war wirklich besser. Ehrenhafter. Ich schob die Koffer wieder unter das Bett.
Als sie aus der Stadt zurückkehrten, schaute ich Mutter forschend ins Gesicht. Ich suchte darin nach Omas Zügen, fand aber nur meine eigenen.
Teil II
Verbrannt ist alles ganz und gar,
das arme Kind mit Haut und Haar;
ein Häuflein Asche bleibt allein
und beide Schuh’, so hübsch und fein.
Und Minz und Maunz, die kleinen,
die sitzen da und weinen.
»Miau! Mio! Miau! Mio
Wo sind die armen Eltern, wo?«
Und ihre Tränen fließen
wie’s Bächlein auf der Wiesen.
aus: »Der Struwwelpeter« von
Heinrich Hoffmann
E s half, wenn sie sich zusammenrollte und so fest in ihre Knie biss, dass die Haut platzte wie eine Wurstpelle. Dann kam Blut, und darauf konnte sie sich konzentrieren, es wegwischen, daran lecken.
Die Mutter kam nicht herauf auf den Dachboden. Die Treppe war zu steil. Sie stieß mit dem Kopf gegen die Balken, und die Bodenbretter wiesen breite Risse auf, in denen sich ihre Absätze verfingen.
Ruby stand auf, steckte den Kopf aus dem Dachfenster und roch am Wind. Er brachte den Geruch von Ebbe und Tang mit sich. Sie dachte an den Strand und den Sand und die Burgen, die sie und Anna bauen würden, während der Lärm unter ihr hin und her wogte, von einem Zimmer zum anderen. Zuerst im Esszimmer, dann im Gartenzimmer, dann in der Küche und dann wieder im Gartenzimmer. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter, nie die ihres Vaters. Wenn der Lärm sich ins Arbeitszimmer ihres Vaters verlagerte, war es fast schon zu Ende. Dann war gleich das Finale erreicht, das laute Schreien der Mutter, danach Türenknallen und dann Weinen. Ein Weinen, das zuerst ziellos umherirrte, das sich hob und senkte, in der Küche, mit leisem Klirren, und endlich: trockenes Schluchzen aus dem Gartenzimmer. Es war möglich, sich die Ohren zuzuhalten und im Kopf Musik zu hören — den Vater, der für sie Chopins Walzer Nr. 7 spielte. Ruby
kannte jede Note. Das Schluchzen der Mutter konnte die Musik nicht übertönen.
Ein seltenes Mal dauerte der Lärm so lange, dass er das Arbeitszimmer nicht erreichte. Ib wurde geweckt und schrie, und die Mutter schlug kreischend harte und hässliche Akkorde auf dem Klavier. In solchen Momenten bot die Haut auf ihren Knien Zuflucht: der Schmerz, wenn sie zubiss, der Geschmack des Blutes. Das Haus bebte, und Ruby hatte es eilig. Sie kratzte Stücke von den Gipstieren, von den Elefanten und Tigern; bohrte sich zu dem Stahldraht durch, der sie aufrecht hielt. Weiße Gipsflocken rieselten zu Boden. Sie deformierte die Tiere, bis sie Mitleid mit ihnen hatte, dann versuchte sie, sie wieder auf den Balkenrand zu stellen. Sie leckte sich Blut vom Knie und wickelte sich die Haarschleife ganz fest um die Hand. Ihre Finger schwollen an, und das ausgesperrte Blut pochte mit ihrem Herzen um die Wette.
Das Dachbodenfenster war schräg, im selben Winkel wie das Dach. Es hatte nur eine Angel. Man konnte die Hand in die Luft halten, nachdem die Schleife so lange festgewickelt gewesen war, dass die Hand abzufallen drohte. Hände konnten abfallen, das konnten zumindest braune Warzen mit Haaren. Tante Oda wickelte sich Nähgarn um ihre Warzen und band die Fäden gut fest. Sie hatte etliche Warzen am Hals, dort, wo die Halskette lag. Wenn sie Fäden hatte, trug sie die Kette nicht. Und eines Tages waren Warzen und Fäden verschwunden. »Die Warze ist erwürgt worden«, erklärte Tante Oda.
Ruby band die Schleife ab und hielt die Hand aus dem Fenster. Vom Wind wurde sie rasch abgekühlt. Ihre Finger wurden dünn und weiß, als das Herz sein Blut zurückerhielt. Aber die Haarschleife fiel hinaus. Ein gelbes Band, das im Wind wehte. Nach einem kurzen Flug durch die Luft klebte es weiter unten an der Dachrinne fest. Zwei Haarschleifen im Monat, wenn sie noch mehr verlor, gab es Prügel. Diese war erst drei Tage alt. Abends
wurde sie gewaschen und um eine Milchflasche gewickelt, und dann war sie am nächsten
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