Das Erbstueck
dein Vater. Oder dein Päpääää ...«
»Was willst du damit sagen?«
Die Mutter ließ sie plötzlich los. Ruby richtete sich auf. Sie musste sich für einen Moment an die Wand lehnen. Vor ihren Augen drehte sich alles.
»Was willst du damit sagen, Mutter? Dass du nicht richtig mit Papa verheiratet bist? Habt ihr deshalb kein Hochzeitsbild?«
»Doch, danke, du. Wir sind verheiratet. Leider.«
Ruby redete mit einem abgewandten Rücken. Die Mutter stand am Küchentisch und wienerte mit einem kreideweißen Tuch ein Messer. Ihre Ellbogen zerfetzten die Luft.
»Was willst du also damit sagen, Mutter?«
»Dass er nicht dein Vater ist. Ich war schwanger, als ich ihn kennen gelernt habe. Dein Vater war einer... einer, mit dem es nicht gut gegangen ist. Und wenn du...« Sie wirbelte herum und schwenkte den Lappen. »Wenn du auch nur ein Wort zu Mogens sagst, dann will ich dich nie mehr sehen. Ist das klar?«
Dass die Mutter nicht begriff, dass diese Drohung wie eine Belohnung klang!
»Und sieh zu, dass du diese idiotischen Ohrringe loswirst.«
Der Vater war fröhlich und schweißnass, als er nach Hause kam. Er hatte am Wegesrand eine wilde Zypresse gefunden. Die stand nun auf seinem Gepäckträger. Sie sah aus wie ein buschiger Regenschirm. Erde rieselte von den Wurzeln, als er sie in den Garten brachte.
»Vielleicht fühlt sie sich hier ja wohl«, sagte er und ging mit schwungvollen Schritten weiter. »Man weiß ja nie. Holst du mir den Spaten, Herzchen?«
Das tat sie, dann reichte sie ihm das Gerät. »Du hast Erde an der Wange, Papa.«
L angsam erwachsen zu werden, handelte davon, dass sie mit geheimen Gedanken leben musste, bis sie ihre eigene Wohnung finden, bis sie die Tür hinter sich schließen und alles laut sagen konnte, egal, ob jemand es hören wollte oder nicht. Deshalb war sie mit fünfzehn Jahren überglücklich, als ihre Mutter sie in ein Internat gab. In eine Schule, wo man die ganze Zeit wohnte und nur jedes zweite Wochenende nach Hause fahren durfte. Schon nach der Konfirmation, die Tante Oda und die Mutter in Gottes Namen ausrichteten, und die während einer Hitzewelle im Garten gefeiert wurde, begann sie, sich auf den Herbst zu freuen. Tante Oda schenkte ihr eine nagelneue Armbanduhr, die alte wurde mit keinem Wort erwähnt. Und die Mutter erlaubte es ihr, eine Perlenkette und Perlenohrringe zu tragen. Die Konfirmation an sich war unwichtig, es ging darum, konfirmiert zu sein. Das Fest an sich war ein Fest wie alle anderen, es gab zu essen und zu trinken, und zwischen Mutter und Vater herrschte ein stummer Waffenstillstand. Onkel Dreas hielt eine weltfremde Rede mit Floskeln über die Reihen der Erwachsenen, und Onkel Frode schlief mit seiner Zigarre im Schatten ein und brannte sich ein Loch in sein neues weißes Jackett. Anne-Gine wurde noch immer nicht eingeladen, aber Tutt und Käse-Erik kamen. Sie schenkten ihr einen Goldring. Es interessierte Ruby absolut nicht, wie sie und die Eltern ihre finanziellen Angelegenheiten
geregelt hatten und ob sie noch befreundet waren oder nicht. Für sie war der Goldring die Hauptsache.
Sie biss sich nicht mehr in die Knie. Sie konnte sich nur noch vage an diese Gewohnheit erinnern. Der Dachboden war zu einem blöden kleinen Loch geschrumpft, wo sie sich nur mit Mühe aufrecht halten konnte. Er war gefüllt mit Kästen voller alter Kleider und ausrangierten Spielsachen. Familie Holgersen zog nach Ärhus, keine neue Freundin nahm Sofies Platz ein. Ruby besaß einen Körper, der nur ihr gehörte, einen Körper, der leuchtete, wenn sie ihn wusch, der sich in ihren Kleidern schwenkte, der die Mutter zum Wahnsinn trieb. Beide zählten die Tage bis zum Schulbeginn. Der Vater wirkte still und bedrückt. Ib brachte aus seiner Schule eine Mitteilung mit, weil er den Feueralarm ausgelöst hatte. Worauf die Mutter sich glücklich die Zeit damit vertrieb, ihm Hausarrest zu verpassen und alle Türen und Fenster zu bewachen und sich bei Ruby zu beschweren, die mit Engelszungen antwortete. Denn dahinter wartete die Freiheit von zu Hause.
Doch zwei Jahre in der Realschule Forum entpuppten sich als alles andere als Freiheit. Ihr Zimmer musste sie mit einer kleinen Schwedin teilen, die sieben Jahre alt war, als sie dort eintraf. Yvonne, die aus einem Waisenhaus stammte. Ruby machte sie sofort zu ihrer Sklavin. Das war die Strafe dafür, dass die kleine Drecksgöre ihr die Möglichkeit nahm, hinter einer geschlossenen Tür allein zu sein. Yvonne putzte Schuhe und
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