Das erste Buch der Traeume
Ballkleid, mit Sicherheit das düsterste und hochgeschlossenste Modell an diesem Abend, sehr passend für eine viktorianische Witwe. »Grayson hat dich schon überall gesucht. Aus irgendeinem Grund denkt er, er müsse auf dich aufpassen. Na ja, man kann es ihm nicht verdenken, schließlich bist du mit Henry Harper unterwegs …«
»Was willst du damit sagen?« Nein, ich mochte sie kein bisschen.
»Ich weiß, ihr Mädchen steht auf diese Typen.« Emily öffnete ihr Abendtäschchen und nahm einen Lippenstift heraus. »Jungs wie Arthur, Jasper und Henry, selbstsicher, lässig, leichtsinnig, egoistisch, oberflächlich und absolut verantwortungslos. Die klassischen Herzensbrecher, eben. Ich werde das wohl nie verstehen.«
»Und ich dachte, du bist auch ein Mädchen«, sagte ich. Ich fand es lustig, dass sie Jasper, Henry und Arthur in einen Topf warf: Unterschiedlicher konnten Menschen doch gar nicht sein.
»Ja, aber eins mit Verstand«, sagte Emily. »Und einem guten Geschmack. Grayson ist der einzig Vernünftige in seiner Clique. Ich wünschte wirklich, er würde sich andere Freunde suchen. Nimm zum Beispiel Jasper – er hat heute literweise Alkohol in die Schule geschmuggelt, um sich und seine Begleiterinnen abzufüllen. Arthur und Anabel waren auch mit dabei. Wahrscheinlich müssen sie sich ihre sterbende Beziehung schönsaufen. Letztes Jahr noch Ballkönig und Ballkönigin, heute irgendwie nur noch bemitleidenswert.« Sie verzog verächtlich das Gesicht. »Jedenfalls ist Anabel betrunken an mir vorbeigewankt und hat irgendetwas gelallt, von wegen, ich soll dich von ihr grüßen. Ich meine, hallo, wie zugedröhnt kann man sein? Sie will schließlich noch das ganze Wochenende in London bleiben, dann kann sie das ja immer noch selbst tun.«
Ich starrte Emily an. Sämtliche Alarmglocken, die bei den Worten »sterbende Beziehung« leise angefangen hatten zu bimmeln, schrillten nun in voller Lautstärke.
»Wo sind sie hin?«
Emily sah mich verwundert an, vermutlich, weil ich sie vor Schreck am Arm gepackt hatte.
»Arthur und Anabel?« Sie zuckte mit den Schultern. »Weg.«
»Weg?«
»Sie haben sich vorhin verabschiedet, Anabel konnte kaum mehr aufrecht stehen, Arthur musste sie sogar stützen, so betrunken war sie. Sie sah aus wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt.«
»Was?« Die Worte »Lamm« und »Schlachtbank« setzten bei mir eine wilde Gedankenkette in Gang.
»Anabel und Arthur haben den Ball verlassen«, wiederholte Emily geduldig, als sei ich eine Vollidiotin. »Ohne Zweifel, um sich betrunken den Dingen zu widmen, von denen sie am meisten verstehen. Ich kann nur hoffen, dass sie wenigstens so vernünftig sind, ein Taxi zu nehmen.«
Der Schreck war mir direkt in den Magen gefahren, zusammen mit der Erkenntnis, dass wir möglicherweise vollkommen falschgelegen hatten. Und dass wir keine Zeit mehr hatten bis Halloween.
Scheiße. Scheiße, scheiße, scheiße.
Was, wenn Arthur uns gestern Nacht ganz bewusst in die Irre geführt hatte? Wenn er gar nicht vorhatte, das Ritual im Traum zu vollziehen? Wenn er …
»Ist heute vielleicht Neumond?«, schrie ich Emily an.
»Äh«, machte sie konsterniert.
»Wann war das genau? Wann sind Arthur und Anabel los?«
Emily starrte mich an. »Na ja, gerade eben, halt.«
Oh nein. Nein! Ich packte Emily an beiden Schultern und schüttelte sie.
»Sag Henry, dass ich versuche, sie aufzuhalten! Sag ihm, er soll das mit Halloween vergessen, es findet heute Nacht statt! Und zwar in echt! Kannst du dir das merken? Es ist wirklich wichtig! Henry soll …« Ich ließ sie los, schnappte mir meine winzig kleine Abendtasche vom Waschbeckenrand und rannte zur Tür. »Er soll sich verdammt nochmal was ausdenken!«
Um schneller vorwärtszukommen, zog ich meine Schuhe aus und rannte barfuß weiter. Vielleicht lag ich ja falsch, vielleicht war ich jetzt diejenige, die durchdrehte, aber wenn ich recht hatte, wenn die Erkenntnis, die mich vorhin mit voller Wucht getroffen hatte, nicht meiner blühenden, überreizten Phantasie entsprach, dann würde heute Nacht etwas Schreckliches passieren. Und das musste ich verhindern. Ich schlidderte mit gerafften Röcken und in einem Affenzahn durch die Gänge, ohne Rücksicht darauf, was die anderen dachten. Bitte, bitte, lass sie noch da sein, flehte ich in Gedanken.
Aber Anabel und Arthur hatten die Schule schon verlassen. Als ich aus der Eingangstür stürzte, sah ich sie bereits unten an der Straße. Sie waren soeben im Begriff,
Weitere Kostenlose Bücher