Das erste Buch der Traeume
Fesseln. »Warum … was ?« Obwohl die Gruft nur von Kerzenlicht erhellt war, wirkten ihre Pupillen unnatürlich klein, und für einen Moment, nur für einen Bruchteil einer Sekunde, kam mir der Gedanke, sie könne der Dämon höchstpersönlich sein. »Warum du heute Nacht sterben musst?« Sie lachte. »Das würde ich an deiner Stelle nicht so persönlich nehmen. Andererseits hast du es dir durch deine Neugier selber eingebrockt. Ich hatte durchaus ein paar andere jungfräuliche Kandidatinnen in petto. So selten, wie Jasper denkt, sind die nämlich gar nicht.« Sie schien wirklich blendender Laune zu sein. »Aber dann hast du dich in Graysons Traum geschlichen. Ich glaube ja nicht an Zufälle. Ich glaube, dass er dir höchstpersönlich den Weg in Graysons Traum gezeigt hat. Und heute Nacht wird er durch dein Blut wieder lebendig werden.«
Nein, sie war kein Dämon, sie war nur eine Wahnsinnige, die an Dämonen glaubte. Das war von meiner Warte aus betrachtet aber in etwa genauso schlimm. Vor allem, weil dort hinten auf dem Steinboden das Buch lag, aus dem Arthur beim Aufnahmeritual vorgelesen hatte, und gleich daneben das Jagdmesser, dessen Klinge im Kerzenlicht unheilvoll schimmerte. Verzweifelt sah ich zu Arthur hinüber, der immer noch reglos an derselben Stelle lag. Immerhin lebte er, seine Brust hob und senkte sich beim Atmen. Wie blöd war ich eigentlich? Während Anabel mich eiskalt in eine miese Falle gelockt hatte, hatte ich auch noch den Einzigen ausgeknockt, der mir vielleicht hätte helfen können.
»Das offene Friedhofstor – wie idiotisch kann man sein«, murmelte ich. »Du hast die ganze Zeit geplant, dass ich euch folge.«
Anabel kicherte. »Tja, so richtig intelligent war das nicht. Aber falls du dich fragst, wie ich das mit dem Tor gemacht habe: Auch Nachtwächter träumen. Und wenn man ihnen einen persönlichen Gegenstand entwendet hat, kann man problemlos alles herausfinden, was man braucht: Wo die Ersatzschlüssel untergebracht sind, zum Beispiel. Überhaupt bieten diese Träume einem so viele Möglichkeiten.« Anabel seufzte schwärmerisch, während sie sich bückte, um das Buch aufzuheben. »Das ist übrigens das Mausoleum von Arthurs Vorfahren. Alle Hamiltons, die vor 1970 gestorben sind, wurden hier beerdigt. Ich wusste gleich, dass es der perfekte Ort sein würde, um dieses Ritual zu vollziehen.« Jetzt erst sah ich, dass die runden Dinger in den Nischen, die ich für Steine gehalten hatte, eigentlich Totenköpfe waren. » Dein Ritual! Du kannst dich wirklich geehrt fühlen. Denn dein Blut wird es sein, das das Angesicht dieser Welt verändert. Ein neues Zeitalter wird eingeläutet. Der Herr der Schatten wird sich erheben und sein Anrecht in dieser Welt einfordern.«
Wenigstens redete sie. Das kannte man ja aus einschlägigen Fernsehserien. Solange sie redeten, brachten sie einen nicht um. Ich musste dafür sorgen, dass sie nicht damit aufhörte.
»Du hast sie alle manipuliert«, versuchte ich es auf gut Glück. An meinem Hinterkopf fühlte ich etwas Nasses. Blut? »Diese Sache mit dem jungfräulichen Blut …«
Anabel lachte. »Das war einfach! Sie haben den Unterschied zwischen unschuldigem Blut – innocens – und jungfräulichem – virginalis – überhaupt nicht verstanden. Nirgendwo steht geschrieben, dass es jungfräuliches Blut braucht, um das erste Siegel zu brechen. Das wäre auch ein Problem gewesen, denn von uns war ja niemand jungfräulichen Blutes, ich am allerwenigsten. Und glaub mir, wenn einer das wusste, dann Arthur.« Sie kam auf mich zu.
»Aber … er war eifersüchtig auf Tom …«
»Ja, das war er tatsächlich. Und er war mehr als entsetzt, als Tom das Zeitliche gesegnet hat. Einer von vielen glücklichen Zufällen … Obwohl, wir waren uns ja einig, dass es keine Zufälle gibt, nicht wahr?« Mit einem sonnigen Lächeln kniete sie neben mir auf dem Boden nieder. »Die Jungs haben angefangen, sich gegenseitig zu misstrauen. Als Henry bei mir in der Schweiz war, hat er allen Ernstes gefragt, ob Arthur mich gut behandelt … Ich sag dir was: Es hat unglaublich viele Vorteile, zart und blond zu sein. Alle fühlen sich immer nur bemüßigt, einen zu beschützen.«
Ich zerrte an meinen Fesseln, aber so wahnsinnig Anabel auch sein mochte, so gründlich war sie auch. Reden! Ich musste sie unbedingt weiter dazu anhalten zu reden.
»Und wie war das mit deinem Hund …?«
»Lancelot, der niedlichste kleine Hund unter der Sonne? Was hat er denn? «, äffte sie meine
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