Das erste Buch der Traeume
vorgekommen, dass ich erst einmal die goldene Nachttischlampe angeknipst und verstohlen nachgesehen hatte, ob die Sohlen meiner Flauschsocken vielleicht Spuren von Friedhofserde aufwiesen, ob Harz an meinen Handflächen klebte oder Zedernnadeln in meinen Haaren steckten. Was natürlich nicht der Fall gewesen war.
Inzwischen musste ich über mich selber grinsen. Wenigstens konnte ich mich nicht über einen Mangel an Phantasie beklagen.
»Kann ich bitte noch einen Toast haben?«, fragte Mia, während ich »Christina Rosetti« in das Suchfeld eintippte, deren Grab Grayson im Traum gesucht hatte. Obwohl ich den Namen falsch schrieb, gab es zahllose Treffer.
»Das wäre dann dein fünfter Toast«, sagte Mum zu Mia. Und zu mir sagte sie: »Hast du nicht gehört? Kein iPad bei Tisch. Leg es weg.«
Aber das ging nicht, weil das Display gerade Erstaunliches offenbarte: Christina Rossetti war tatsächlich eine Dichterin aus viktorianischer Zeit, gestorben 1894. Beerdigt in London, und zwar auf dem Highgate Cemetery.
Das war jetzt allerdings ein wenig unheimlich.
Ich klappte die Hülle des iPads zu und schob es ein Stückchen von mir weg.
»Wäre es dir lieber, ich würde magersüchtig werden?«, fragte Mia. »Mädchen in meinem Alter sind da sehr gefährdet, besonders in instabilen familiären Konjugationen.«
»Konstellationen«, verbesserte Mum automatisch und reichte Mia den Brotkorb.
So unheimlich war es allerdings auch wieder nicht, wenn man näher darüber nachdachte. Ich ignorierte meine Gänsehaut und klappte die Hülle des iPads wieder auf. Es gab ganz sicher eine logische Erklärung dafür. Schließlich war meine Mutter Literaturwissenschaftlerin, da war es sehr wahrscheinlich, dass ich den Namen Christina Rossetti schon einmal gehört hatte, zumal sie eine Zeitgenossin von Emily Dickinson war, deren Gedichte Mum und ich sehr mochten. Irgendwo in meinem Unterbewusstsein musste sich halt auch die Information festgesetzt haben, wo Christina Rossetti begraben lag. Und heute Nacht hatte sich ebendiese Information in meinen Traum geschlichen. So einfach war das.
Andererseits – ich konnte mich zwar nicht mehr an den genauen Wortlaut des Gedichts in meinem Traum erinnern, das Grayson und Henry zitiert hatten, aber es hatte sich gereimt und ziemlich echt geklungen. Und gut. Wenn mein Unterbewusstsein das selber gedichtet hatte, musste ich wohl ein Genie sein.
»Mum, kennst du Christina Rossetti?«, fragte ich.
»Ja, natürlich. Ich besitze eine wunderschöne illustrierte Ausgabe von ›Goblin Market‹. In einem meiner Bücherkartons.«
»Hast du mir ihre Gedichte vielleicht vorgelesen, als ich klein war?«
»Möglicherweise.« Mum nahm mir das iPad aus der Hand und klappte die Hülle zu. »Aber eigentlich mochtest du nur Gedichte mit Happy End. Die von Christina Rossetti sind eher düster.«
»Wie die Stimmung in diesem Hause.« Mia sah zur Küchentür, durch die Lottie vorhin gehuscht war. Nach ihrer zweiten Tasse Kaffee verschwand Lottie immer für eine Viertelstunde im Badezimmer – jeden Morgen, ohne Ausnahme. »Hast du Lottie eigentlich schon gesagt, dass du und Mr Spencer sie bald rausschmeißen werdet, oder müssen wir das tun?«
»Niemand wird Lottie rausschmeißen«, sagte Mum. »Ihre Zeit als Kindermädchen in dieser Familie geht einfach zu Ende – und das weiß Lottie schon lange. Ihr seid nun mal keine Kinder mehr, auch wenn ihr euch alles andere als erwachsen benehmt. Gestern Abend habe ich mich sehr für euch geschämt …«
»Dito.« Mia hatte ihre Toastscheibe mit einem halben Pfund Marmelade bestrichen und versuchte, das Ganze zum Mund zu bugsieren, ohne dass es in der Mitte durchbrach.
»Wo soll Lottie denn hin, wenn sie nicht mehr für uns arbeiten kann?«, fragte ich. Christina Rossetti und mein irrer Traum waren für den Moment vergessen. »Sie hat doch gar nichts gelernt. Wenn du und Papa sie nach ihrem Au-pair-Jahr nicht überredet hättet, bei uns zu bleiben, hätte sie studiert und Karriere gemacht. Unseretwegen hat sie darauf verzichtet, und jetzt, wo sie alt ist, muss sie sich sagen lassen, dass sie nicht mehr gebraucht wird. Das ist schäbig.«
Mum lachte kurz auf. »Lieber Himmel, Liv, jetzt sei doch nicht so dramatisch! Erstens war das damals Lotties freie Entscheidung, und meiner Meinung nach nicht die schlechteste: Sie hat viel von der Welt gesehen, Fremdsprachen gelernt und weiß Gott nicht schlecht verdient in all den Jahren – die gesamten Unterhaltszahlungen eures
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