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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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uns …«
    Erneut ertönte ein lauter Donner. Es reichte. Ich musste etwas unternehmen, bevor diese mystischen Friedhofsspielchen endgültig zum Albtraum wurden und mein Cousin, der Herr der Schatten und der Finsternis, aus dem Nebel auftauchte und mich mit Lotties Beil niedermetzelte.
    »Nimm gefälligst deine Pfoten von mir, Gandalf«, sagte ich energisch und befreite mit einem Ruck meine Haarsträhne aus Arthurs Fingern. »Ist zwar alles hochinteressant hier, aber trotzdem muss ich jetzt gehen. Bei Gewitter darf ich nicht draußen sein.« Das sollte lässig klingen, tat es aber nicht. Leider. Selbst der unterbelichtete Jasper musste merken, dass ich Angst hatte.
    Jetzt erst fiel mir auf, wie groß sie alle waren. Über eins fünfundachtzig, jeder von ihnen, und mit jeder Sekunde, in der ich sie anschaute, schienen sie noch zu wachsen.
    Ein Blitz tauchte den Friedhof in grelles Licht. Ich schluckte. Die äußeren Flammen des Drudenfußes loderten wieder höher, und aus den Augenwinkeln betrachtet sah es so aus, als würden den wabernden Nebelschwaden im Dunkeln Arme und Beine wachsen …
    »Ich warne euch, ich kann Kung-Fu«, sagte ich. Meinen Worten folgte ein gewaltiger Donner, die Erde bebte erneut, ich verlor das Gleichgewicht und fiel um.
    »Aua«, sagte ich laut und rieb mir den Hüftknochen. Mit meiner katzenhaften Sehkraft war es schlagartig vorbei. Ich war auf hartem Marmorboden gelandet. Irgendwo links neben mir erkannte ich im diffusen Licht einen kleinen unförmigen Fleck. Ich tastete danach und hielt mir das Ding vor die Augen. Es war eine der grenzdebil grinsenden Tänzerinnen von Mrs Finchley, die ich unter mein Bett geschoben hatte, um sie nicht andauernd anschauen zu müssen. Jetzt aber freute mich ihr verschwommener Anblick ungemein.
    Ich war aufgewacht.
    Gott sei Dank.

9.
    »Leg Lotties iPad weg, Liv«, sagte meine Mutter. »Du weißt ganz genau, dass ich das bei Tisch nicht dulde.«
    »Ich muss was für die Schule nachschauen. Wenn ich ein Smartphone hätte wie jeder andere Mensch, hätte ich das längst erledigt.« Sehr zu unserem Kummer besaßen Mia und ich nur uralte, klobige Karten-Handys für den Notfall, ausrangierte Teile von meinem Vater. Nutzlos und peinlich.
    Sub umbra floreo gab ich in das Suchfeld ein.
    »Latein?«, fragte Mum, die offensichtlich besser über Kopf lesen konnte als gedacht. »Für welches Fach brauchst du das denn?«
    »Für äh …« Die Suchmaschine spuckte jede Menge Ergebnisse aus. Ich ließ meinen Finger darüber gleiten. Sub umbra floreo – ich blühe im Schatten. Der Spruch bildete die Inschrift des Staatswappens von Belize. Hm. »Erdkunde«, sagte ich. »Wo liegt noch mal Belize?«
    »In Zentralamerika. Neben Guatemala. Früher hieß es British Honduras.« Manchmal war Mum schneller als das iPad und mindestens so gut wie Wikipedia.
    »Aha.« Ich fragte mich, woher mein Unterbewusstsein das Staatsmotto von Belize kannte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich heute zum allerersten Mal überhaupt von diesem Land hörte. Wie konnte ich dann davon träumen? Schon seltsam, was man unterbewusst alles aufschnappte und speicherte.
    Merkwürdig war auch, dass ich mich immer noch an fast jedes Detail meines nächtlichen Traums erinnern konnte. Schon als Kind hatte ich lebhaft geträumt (auch aus dem Bett fiel ich öfter mal, eine Zeitlang war ich sogar geschlafwandelt. Lottie erzählte immer gern, wie ich als Fünfjährige nachts an ihrem Bett gestanden und auf Spanisch ein Orangeneis bestellt hatte), aber normalerweise entglitten mir die Erinnerungen daran viel schneller als mir lieb war, manchmal schon Sekunden nach dem Aufwachen, egal, wie aufregend oder wichtig oder lustig der Traum auch gewesen sein mochte. Eine Zeitlang hatte ich mir deshalb angewöhnt, besonders interessante Träume sofort aufzuschreiben. Zu diesem Zweck hatte ich immer ein Heft und einen Stift auf dem Nachttisch liegen (Das Heft musste ich tagsüber an einem sicheren Ort verstecken, niemand durfte jemals darin lesen, so viel war klar.) Aber bei diesem Traum war das nicht nötig gewesen.
    Ich war in der Nacht übrigens nicht von einem echten Gewitter geweckt worden, sondern vom Lärm, den die Müllabfuhr draußen auf der Straße gemacht hatte, dem Rumpeln leerer Tonnen und Container. Mein Herz hatte immer noch bis zum Hals geklopft, als ich mich vom Boden aufgerappelt und versucht hatte, meine Gedanken zu sortieren. Der Traum, so verrückt er auch gewesen sein mochte, war mir so real

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