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Das erste Buch der Traeume

Das erste Buch der Traeume

Titel: Das erste Buch der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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hielt mir seine Hand hin. »Komm, wir gehen irgendwohin, wo es netter ist.«
    »Das war überhaupt nicht der schrecklichste Moment meines Lebens.« Ich nahm seine Hand, als wäre es das Normalste und Selbstverständlichste der Welt, und ließ mich von ihm aus der Kabine zur grünen Tür ziehen, die wie ein Fremdkörper zwischen den mit Sprüchen beschmierten Kacheln prangte. Wenn ich ehrlich war, fand ich es ganz und gar nicht selbstverständlich, Henrys Hand zu halten. Mein Herz offenbar auch nicht, denn es begann wieder schneller zu schlagen.
    Henry legte seine freie Hand auf die Eidechse und machte Anstalten, die Tür zu öffnen.
    »Oh nein«, sagte ich, denn mir war gerade eine Idee gekommen. Ich zog ihn von der Tür weg. »Nicht da lang.«
    »Aber …«
    Ich ließ ihn nicht ausreden. »Wenn du schon mal hier bist, können wir doch noch bleiben. Es gibt auch schöne Ecken in Berkeley. Komm, hier entlang.« Ich stieß die Tür vom Mädchenklo auf und freute mich, als uns dahinter nicht etwa der breite, öde Schulflur erwartete, sondern Sonnenschein und eine frische Brise. Jawohl! Diese Art zu träumen machte richtig Spaß. Und ich war wirklich gut, es sah alles genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Wir standen hoch oben in den Berkeley Hills. Von hier konnte man über die halbe Stadt und die Bay schauen. Die Abendsonne tauchte alles in weiches, goldenes Licht.
    Ich zog Henry zu einer Bank unter einem riesigen Baum, meinem alten Lieblingsplatz. Hier hatte ich Stunden gesessen, Gitarre gespielt und aufs Meer geschaut. Ich konnte mir ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Wenn das mal kein romantisches Plätzchen war!
    »Wir haben damals nur ein Stück die Straße hinauf gewohnt.«
    »Nicht schlecht«, sagte Henry beeindruckt, und ich wusste nicht, ob er meine Fähigkeiten zum eleganten Kulissenwechsel meinte, direkt aus einem versifften Schulklo an einen Ort mit solch atemberaubender Aussicht, oder die Tatsache, dass wir mal hier gewohnt hatten. Das Haus wäre tatsächlich nicht übel gewesen, es hatte sogar einen Pool gehabt. Aber wir hatten es mit einer griesgrämigen Philosophie-Dozentin und ihrer putzwütigen Mutter teilen müssen, deshalb hatten wir uns dort nie zu Hause gefühlt, sondern immer nur wie Pensionsgäste.
    »Das ist der Indian-Rock-Park«, erklärte ich und hoffte, dass er das Schild ein paar Meter weiter nicht bemerken würde, das meine Erinnerung an den Namen des Parks soeben aufgefrischt hatte. »Butter hat hier mal ein Eichhörnchen gefangen …«
    »Wer ist Butter?« Henry ließ sich auf die Bank fallen, und ich setzte mich neben ihn, schon um seine Hand nicht loslassen zu müssen.
    »Unsere Hündin. Princess Buttercup. Mein Vater hat sie uns geschenkt, als er und Mum sich getrennt haben. Als Trostpflaster, denke ich.«
    »Oh, das kenne ich. Wir geben einem neuen Haustier der Einfachheit halber immer den Namen von Dads jeweiliger Geliebter.« Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Meistens nehmen wir den Künstlernamen, der ist in der Regel klangvoller. Die Kaninchen heißen Candy Love, Tyra Sprinkle, Daisy Doll und Bambi Lamour, dann gibt es noch zwei Ponys namens Moira Mystery und Nikki Baby.«
    Ich schaute ihn ungläubig von der Seite an. Das war ja fürchterlich. Ich würde mich nie wieder über meine Familie beschweren. »Ganz schön viele … Haustiere.« Vorsichtig drückte ich seine Hand, und sein Lächeln vertiefte sich. Mein Gott, er hatte so schöne Augen. Und was seine Nase anging: Er hatte recht, sie war genau richtig lang. Und seine Haare …
    Er räusperte sich. »Eigentlich war das witzig gemeint«, sagte er. »Aber du darfst mich auch gerne weiter so mitleidig anstarren.«
    Mitleidig? »Äh, ja.« Verlegen schaute ich zur Seite. Mist. Im Traum war es viel schwieriger einzuschätzen, wie viel Zeit verging, während man jemandem tief in die Augen schaute. Zu tief, in diesem Fall.
    Mein Blick fiel auf etwas, das neben der Bank am Baumstamm lehnte.
    »Meine Gitarre«, stellte ich peinlich berührt fest. Jetzt übertrieb mein Unterbewusstsein es aber endgültig mit der Romantik.
    »Oh, wie schön«, sagte Henry ironisch. »Möchtest du mir etwas vorspielen?«
    »Nur über meine Leiche«, erwiderte ich und spürte, wie ich rot anlief. Tatsächlich waren meine Gedanken unkontrolliert vorwärts galoppiert, und ich hatte schon gehört, wie ich Henry etwas von Taylor Swift vorträllerte, während die Sonne langsam unterging und den Himmel über dem Meer rot färbte und

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