Das erste Schwert
Herrscher-Straße näherten, traf der Anblick der dunkel gähnenden Fenster Evan wie ein Hieb.
Es war spät geworden, doch in der Nachbarschaft war noch hinter den meisten Fenstern der dämmrige Lichtschein einzelner Kerzen
oder Laternen auszumachen – je nach Wohlstand dessen, der dort wohnte. Nur das Eckhaus am Ende der Straße lag in brütendem
Dunkel.
Evan lockerte die Klinge in der Scheide und warf Og einen warnenden Blick zu. Im Näherkommen fiel ihm auf, dass das Haus in
Brand gesteckt, jedoch beizeiten wieder gelöscht worden sein musste; gewaltige Rußflecken zogen sich über eine weiß gestrichene
Vorderfront in die Höhe und verstärkten den ursprünglichen düsteren Eindruck. Ihrem Aussehen nach lag der Angriff noch nicht
lange zurück.
Konnte Bruder Pavlos so schnell reagiert haben?
Unmöglich!
Selbst wenn ihnen die Verfolger dicht auf den Fersen gewesen wären, hätten sie nicht schnell genug hier sein und das Feuer
legen können. Er saß ab, schnupperte, strich über die Brandflecken.
Kalter Qualm. Kalte Asche, vom Regen in einen schmierigen Brei verwandelt. Nirgendwo auch nur die Spur einer Glut.
Wer immer hier zugange war, es musste schon vor Tagen geschehen sein.
|518|
Vermutlich während des Massakers an den Königswachen.
Aber gewiss hätte Og doch Kenntnis davon gehabt, wäre sein Bruder zusammen mit den anderen loyalen Männern der Krone getötet
worden?
Reglos stand er im dunklen Hauseingang.
Evan ließ den Schwertgriff nicht mehr los; mit leisen, raschen Schritten ging er zu seinem Hauptmann hin. »Es tut mir leid«,
sagte er tonlos.
Og wandte ihm das Gesicht zu – ein bleicher Schemen war es in der Düsternis, keine Regung war darin zu erkennen. »Ihr versteht
nicht, Eure Erhabenheit«, entgegnete er. »Ich weiß von der Blutnacht. Anfangs glaubte ich, Tildon sei tot. Doch vor einer
Woche erhielt ich Nachricht von ihm. Er ließ mich wissen, dass seine Familie und er am Leben sind. Also nahm ich an –«
Evan klopfte ihm auf den Arm. »Verschwinden wir von hier«, sagte er eindringlich. »Darüber unterhalten können wir uns später
noch, doch solange wir hier stehen, gefährden wir uns und Euren Bruder, wenn er, wie Ihr sagt, noch lebt. Kommt!«
Da, plötzlich, spürte er hinter sich eine hauchzarte Bewegung und die Nähe eines anderen Menschen und wurde auch schon am
Ellbogen gepackt. Es gelang ihm nicht mehr, sich der Gefahr von Angesicht zu Angesicht zu stellen – eine ganz unbehaglich
scharfe, vermutlich metallene Spitze piekste ihm so nachdrücklich in die Haut seines Genicks, dass er’s vorzog, reglos zu
verharren.
Zwei weitere Schattenrisse geisterten aus der Finsternis hinter Og herbei und packten auch ihn bei den Armen.
»Nicht so schnell!«, raunte eine Stimme in Evans Ohr. »Ihr kommt erst einmal mit uns!«
Während Evan bereits in den dunkel gähnenden Eingang des ausgebrannten Hauses geschleift wurde, wirbelten seine Gedanken.
Wären dies Bruder Pavlos’ Männer – die auf |519| wundersam schnelle und lautlose Art hierher gelangt waren – sie hätten ihn zweifellos mit
Eure Erhabenheit
angesprochen. Nicht einmal jene beiden im Geiste armen, verhinderten Meuchelmörder, die ihm in seinem Schlafgemach aufgelauert
hatten, waren sich zu schade gewesen, ihm den rechtmäßigen Titel zuzuerkennen. Das bedeutete: Die geheimnisvollen Angreifer
wussten entweder nicht, wer er war, oder es scherte sie einfach nicht, einen Herzog tätlich anzugreifen.
So blieb ihm jetzt nur die Hoffnung, dass, falls diese Männer wahrhaftig nicht über seine Identität Bescheid wussten, das
Dunkel der Nacht die wahre Farbe seiner nassen Haare gut genug vor einem Erkennen tarnte. Das allein mochte ihm genug Zeit
einbringen, einen Ausweg aus dieser neuen Nervenprobe zu finden. Nur kurz dachte er noch daran, die Klinge blank zu ziehen
– doch nahezu im gleichen Moment wurde ihm die Waffe bereits abgenommen, als habe der unsichtbare Angreifer seine Gedanken
gelesen.
Einen weiten Korridor ging’s entlang, dann von einem Raum in den nächsten. Angesengte Bodendielen knarrten bedrohlich, doch
Evan war’s zufrieden, vorerst dem Regen entkommen zu sein, holte gleich einem Taucher, der nach viel zu langer Zeit wieder
an die Wasseroberfläche zurückkehrte, tief Luft, wischte sich über’s Gesicht und strich die nassen Haare zurück. Wie seine
Augen sich an das Dämmerlicht anpassten, erkannte er, dass dieses Gebäude keinesfalls so
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