Das Erwachen
hatte. Sie hatte ein hübsches, knabenhaftes Gesicht und war wohl Anfang zwanzig, wenn nicht jünger. Winzige Löcher in ihrem Gesicht wiesen darauf hin, dass sie in ihrer Freizeit diverse Piercings trug: an beiden Augenbrauen, in der Lippe, an der Nase. Doch sie schien es aufrichtig zu bedauern, ihnen keine Eintrittskarte mehr verkaufen zu können.
»Ich habe ohnehin nicht geglaubt, dass wir es noch schaffen«, meinte Finn. Aber es tat auch ihm leid, denn Megan schien sehr viel daran zu liegen. Er hingegen war fast erleichtert, auch wenn er nicht wusste, warum.
War er etwa eifersüchtig?
Nach dem Fiasko, das ihre unterschiedlichen Ängste aus ihrer Ehe gemacht hatten, hatten sie beschlossen, dass alles eine Frage des Vertrauens sei. Und so war es auch. Bei ihren Auftritten wurden sie oft von Mitgliedern des jeweils anderen Geschlechts belagert – da musste man sich eben aufeinander verlassen können.
Doch dann beschloss er, dass seine Gefühle nichts mit Vertrauen zu tun hatten. Er vertraute Megan.
Ihrem Freund Mike hingegen vertraute er nicht, auch wenn es dafür keinen erkennbaren Grund gab. Bis auf die Tatsache, dass er Megan vor Finn gekannt hatte, und …
Na gut, es war einfach seltsam, sich hier aufzuhalten, in Megans alten Jagdgründen, bei Megans Verwandten und Megans Freunden. Oft empfand er eine gewisse Unsicherheit; denn es war noch nicht lange her, dass er seine Frau zurückerobert hatte, und deshalb hatte er Angst, sie könnte ihm leicht wieder weggenommen werden, hier, wo sie so viele Leute kannte und er ein Außenseiter war.
»Okay«, meinte Megan schulterzuckend, dann wandte sie sich noch einmal an das junge Mädchen. »Können Sie mir einen Gefallen tun? Würden Sie Mike ausrichten, dass Megan und Finn da waren?«
Das Mädchen machte große Augen. »Hey, Megan – Sie sind doch Mikes alte Freundin, und ihr zwei spielt in dem neuen Hotel. Einen Moment mal«, fuhr sie munter fort, »ich hole Mike.«
Sie stand auf und trat hinter dem kleinen Schalter hervor. »Ich heiße Gayle Sawyer. Ihr erkennt mich natürlich nicht, aber ich war gestern Abend auf eurem Konzert. Ihr wart fantastisch. So was bräuchten wir hier viel öfter. Klar, Salem ist keine Großstadt, aber wenn wir irgendetwas Gutes hören wollen, müssen wir meistens bis nach Boston fahren. Rührt euch nicht von der Stelle, ich hole Mike.«
Dann verschwand sie.
»Du hast einen neuen Fan«, meinte Megan leise zu Finn. Sie klang nicht verärgert, eher belustigt.
»Die meisten gepiercten Frauen stehen auf mich«, flüsterte er zurück.
»Sie hat wirklich eine Menge Piercings.«
Er zog sie an sich und legte das Kinn auf ihren Scheitel. »Mir sind Frauen ohne solche Löcher lieber, abgesehen von den süßen kleinen Löchern in deinen Ohren.«
»Ich überlege mir immer wieder mal, ob ich mir ein Nabelpiercing machen lassen soll«, meinte sie.
»An dir fände ich es natürlich toll«, verkündete er.
»Das sagst du nur so«, erwiderte sie. »Und wenn ich mir ein riesiges Tattoo auf den Rücken machen lasse?«
»Eines, wo sich eine fette Schlange um eine Harley windet, oder eines, wo in verzierten Buchstaben ›Mutter‹ steht?«
»Lieber die Schlange mit der Harley.«
Er neigte den Kopf, sodass er ihr ins Ohr flüstern konnte: »Hast du die kleine Rose vergessen, die du am Knöchel hast?«
»Aber die ist wirklich winzig!« Plötzlich musste sie laut lachen. »Ich dachte, meinen Vater würde der Schlag treffen, als ich mit dieser Tätowierung heimkam.«
Er hatte keine Gelegenheit mehr, etwas zu erwidern, denn in diesem Moment kam Mike Smith in Dockers und einem schwarzen Pullover in den Eingangsbereich. Er grinste breit und wirkte hocherfreut, sie zu sehen.
»Hey, ihr habt es tatsächlich geschafft!«
Megan ging ihm entgegen, ließ sich von ihm umarmen und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange. Finn kochte, obwohl diese Begrüßung wirklich unschuldig genug gewesen war. Smith schien sich auch über ihn zu freuen, auch wenn er ihn nicht umarmte, sondern ihm lediglich die Hand schüttelte.
Automatisch zog Finn Megan wieder an sich und legte einen Arm um ihre Schulter. »Sieht recht interessant aus hier«, meinte er zu Mike.
»Das ist es auch. Kommt rein, ich zeige euch alles.«
»Ach, ihr habt doch eigentlich schon fast geschlossen. Wir kommen ein andermal wieder«, entgegnete Finn.
»Ich gebe euch wirklich gern eine persönliche Führung«, versicherte Mike. »Außerdem komme ich hier nie sehr früh raus. Immerhin werde
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