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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon Drake
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merkte sie, dass sie das Kleid ausgezogen hatte und ihr deshalb so kalt war. Der Wind und der blaue Nebel schlüpften unter den Umhang und umfingen ihren nackten Körper.
    Es war ihr unendlich peinlich – die Angst, nackt auf der Bühne zu stehen, gehörte zu ihren ganz persönlichen Albträumen. Aber es spielte offenbar keine Rolle. Sie überlegte, ob sie eingewilligt hatten, an diesem Abend für eine Nudistenkolonie zu spielen. Ihr Publikum war nur schemenhaft zu erkennen. Verschwommene Gestalten, im blauen Nebel kaum auszumachen, gesichtslos. Nur hier und da sah sie Teile eines Gesichts – ein blutrotes Lächeln, bei dem die Zähne aufblitzten, Augen, die sie anstarrten. Auch die Augen schienen rot zu sein, feuerrot gerändert, doch das konnte ja wohl nicht sein. Augen waren blau, braun, grün oder grau. Manche Menschen hatten auch eine sehr ungewöhnliche Augenfarbe – türkisblau, meergrün, golden. Aber bei keinem leuchteten die Augen so brennend rot.
    All diese Leute trugen Umhänge mit Kapuzen. Wenn der Wind stärker wurde, hob er die Säume und ließ nackte Körper zum Vorschein kommen. Deshalb war wohl alles in Ordnung, sie waren alle so wie sie.
    Doch sie wehrte sich gegen diese Vorstellung. Nein, es war ganz und gar nicht in Ordnung; sie würde nirgendwo ohne Kleider auftreten, nicht einmal im Traum. Und ihre Kleidung war nie anzüglich, auch die von Finn nicht.
    Sie dachte, dass sie zu singen anfangen sollte. Sie meinte, Musik zu hören, aber es klang nicht wie etwas, das Finn geschrieben hatte, und auch nicht wie die Coversongs aus ihrem Repertoire. Er würde sauer sein, er würde sie so anstarren wie heute Abend bei ihrem Auftritt. Doch sie blieb weiter stumm, denn sie kannte diese Musik nicht. Aber offenbar sang jemand an ihrer Stelle, vage konnte sie Worte ausmachen.
    Vielleicht versuchte die Menge, sie zum Singen zu bewegen; sie schienen immer näher an die Bühne heranzurücken. Irgendetwas Bedrohliches lag in dieser Musik, sie mochte sie nicht, sie mochte auch dieses Gefühl des Unbehagens, der Beklemmung nicht, und sie mochte die Angst nicht, die sich allmählich in ihr ausbreitete. Sie war nicht jäh aufgeflammt, sondern schien ganz langsam durch ihre Glieder zu dringen. Die Menge kam zu nah. Und es war auch kein Lied, was die Leute da sangen, eher ein Singsang, etwas, was man vielleicht in einer Kirche sang. Aber nein, mit Kirchenmusik hatte es nichts zu tun, dafür klang es viel zu gruselig, zu bedrohlich.
    Sie begann zurückzuweichen. Oh weh, gleich würde sie mit irgendeinem Teil des Bühnenequipments zusammenstoßen, Finn würde sie für verrückt halten, dass sie an diesem Punkt plötzlich Lampenfieber bekam. Aber er musste es einsehen.
    Er hatte ihren Albtraum nie verstanden. Er hatte zwar so getan als ob, aber …
    Sie drehte sich um, sie wollte unbedingt zu ihm, hinter ihn. Die Zuschauer mit ihren schwarzen Kapuzen kamen ihr zu nah, sie streckten die Hände aus, versuchten, sie zu berühren …
    Finger griffen nach ihr, zerrten an ihrem Umhang. Sie schrie.
    »Perfekt«, sagte jemand. Aber es war kein Kompliment, sondern nur eine kühle, emotionslose Feststellung.
    »Ein paar Blutergüsse«, stellte ein anderer fest.
    »Singt!«, befahl eine feste Stimme.
    Der Lärmpegel stieg. Wie hatte sie das nur für Musik halten können? Die Worte wurden immer lauter, sie klangen rau. Die Melodie war ihr völlig unbekannt.
    »Es kommt die Zeit …«
    »Jetzt!«
    »Nein!«, kreischte sie und drehte sich endlich um. Sie wollte sich hinter Finn in Sicherheit bringen.
    Aber Finn war nicht da. Sie war auch gar nicht auf einer Bühne, sondern in einem Wald.
    Sie spürte den Wind, die dunklen Schatten. Sie spürte Gras unter ihren Füßen … und kleine, spitze Steine.
    Dann sah sie ihn … es … den Grund, warum die Menge sich geteilt hatte. Es lief auf sie zu. Nein, es lief nicht, es war eher ein Gleiten. Sie sah, dass es die Kreatur war, die marmorne Kreatur vom Friedhof. Das Gesicht war grässlich, Angst einflößend, das Gesicht eines Satyrs, lang und schmal, mit spitzem Kinn und Hörnern. Dennoch kam das Geschöpf ihr bekannt vor. Es starrte sie lüstern an, und dann lachte es. Es amüsierte sich prächtig. Es hatte etwas an sich, seine Augen hatten etwas an sich. Sie waren hypnotisch. Vorher war ihr entsetzlich kalt gewesen, doch dort, wo diese Augen auf sie fielen, begann ihr Körper zu brennen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst empfunden, doch gleichzeitig war sie auch noch nie so

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