Das Erwachen: Dunkle Götter 1
Er verdrehte die Augen, als wäre er im Gegensatz zu mir über Zauberer bestens im Bilde.
»Ich bin aber kein … warte mal! Als ich letzte Woche in der Stadt war, habe ich sie noch nicht gesehen. Hat dein Vater in den letzten Tagen einen Zauberer beauftragt, die Wände zu verhexen?«
Marc starrte mich an. »Nein, die Schutzsprüche sind uralt. Sie wurden schon vor Jahrzehnten von einem Zauberer geschaffen, den mein Großvater vorübergehend beschäftigt hatte.«
»Und warum sehe ich sie erst jetzt?«
»Bisher hast du ja auch noch nicht versucht, die Macht über Tiere zu übernehmen und sie auf dem Wasser laufen zu lassen. Ah, ich weiß – reifst du nicht gerade zum Mann heran? Neulich hatte ich schon bemerkt, dass du nicht mehr ganz so mädchenhaft wirkst … sieh dir mal dein Gemächt an. Bekommst du einen Flaum?« Er duckte sich lachend, als ich mit meinem Reisesack nach ihm warf.
Die Kutsche hielt an, und ein Diener öffnete uns die Tür, damit wir aussteigen konnten. Die Fortsetzung der Debatte verschoben wir auf später. Als ich im Hof stand, bemerkte ich ein bekanntes Gesicht. »Dorian!«, rief ich dem kräftigen Mann zu, der zu uns herüberkam. Dorian Thornbear war im gleichen Alter wie Marc und ich. Obwohl er etwas gedrungener wirkte, besaß er deutlich mehr Muskeln als wir. Er war der Sohn des herzoglichen Seneschalls und dank seiner kämpferischen Fähigkeiten bereits als Bewaffneter in die Dienste des Burgherrn aufgenommen. Die steife Lederrüstung und sein Speer legten davon Zeugnis ab.
»Hallo, Master Marcus! Wer hat denn diesen Gassenjungen hier hereingelassen?« Das war aber nur ein Scherz, denn wir alle waren Freunde, seit ich als kleiner Junge die Burg besucht hatte.
Marc antwortete an meiner statt. »Ich habe Mort eingeladen, die Woche hier zu verbringen.«
»Willst du wieder bei mir schlafen, Mort?« Bislang hatte ich meist bei Dorians Familie gewohnt, wenn ich auf der Burg übernachtet hatte. Genau genommen gehörten seine Eltern dem niederen Adelsstand an und machten einen viel weniger einschüchternden Eindruck als die Familie des Herzogs. Außerdem waren unsere Väter eng befreundet.
Daher wollte ich sofort zusagen, doch Marc unterbrach mich, indem er mir eine Hand auf die Schulter legte. »Nicht dieses Mal, Dorian. Ich habe ihn überredet, in einem Gästezimmer Quartier zu beziehen.«
Dorian runzelte die Stirn. »Ist dort denn genug Platz, wenn in dieser Woche all die Adligen kommen?«
»Gewiss doch«, versicherte Marc.
»Aber …«, wollte ich einwenden.
»Still! Keine Widerrede. Außerdem musst du doch im Burgfried sein, wenn wir nachts in der Bibliothek stöbern wollen, ohne bei den Wächtern allzu viel Neugierde zu erregen.« Marc bemerkte natürlich, dass Dorian die Augenbrauen hochzog. »Wir sind auf einer geheimen Mission!«, flüsterte er verschwörerisch.
»Wirklich?« Dorian Thornbear war einer der tapfersten und treuesten Freunde, die ich je gehabt hatte, und dabei ohne jegliche Arglist. Er war unerhört ehrlich, was ihn leider auch ein wenig leichtgläubig machte. Nicht, dass ihn der junge Herr von Lancaster hereinlegen wollte. Es war nur so, dass Dorian derlei Dinge allzu ernst zu nehmen pflegte. So steckten wir hinter der Kutsche die Köpfe zusammen, damit Marc und ich Dorian über die Ereignisse der letzten paar Tage unterrichten konnten. Auch wenn wir drei schon immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten hatten, befürchtete ich, Dorian könne mein Geheimnis versehentlich ausplaudern. Täuschung war noch nie seine Stärke gewesen.
»Was habt ihr drei denn da zu tuscheln?«, ließ sich die laute Stimme von Lord James vernehmen. Marcs Vater, der Herzog von Lancaster, kam strahlend auf uns zu. Er war ein mittelgroßer Mann mit hellbraunem Haar und blauen Augen. Als Dorian erschrocken zu ihm herumfuhr, lachte er.
»Nichts, Durchlaucht!«, antwortete Dorian und zog den Kopf ein.
»Ihr seht prächtig aus, Durchlaucht. Danke für die Einladung.« Ich verneigte mich höflich. Mir war es schon immer gut gelungen, jederzeit einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Keine Ursache, junger Eldridge. Bitte richte deinem Vater einen schönen Gruß von mir aus, wenn du ihn wiedersiehst. Ich hoffe, du wirst den Aufenthalt bei uns genießen.« Der Herzog war ein ungewöhnlicher Vertreter des Adelsstandes, denn er behandelte alle seine Vasallen und sogar die Freisassen mit Höflichkeit und Achtung, obwohl er dies gar nicht hätte tun müssen. Deshalb war er beim Volk von Lancaster
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