Das Eulenhaus
magst, mit denen du arbeitest.«
Midge sah ihn einen Moment lang schweigend an. Wie erklärte man so etwas jemandem wie Edward, überlegte sie. Was wusste Edward denn überhaupt vom Arbeitsmarkt, von Stellen?
Plötzlich spürte sie, wie Bitterkeit in ihr hochstieg. Lucy, Henry, Edward, ja, sogar Henrietta – sie waren durch eine unüberwindliche Kluft von ihr getrennt. Der Kluft zwischen den Müßiggängern und den Arbeitenden.
Sie hatten ja keinen Begriff, wie schwer es war, eine Stelle zu finden und sie, wenn man sie endlich hatte, zu halten! Sicher, man könnte durchaus einwenden, dass sie es eigentlich nicht nötig hatte, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Lucy und Henry würden ihr freudig ein Zuhause bieten – sie hätten ihr gleichermaßen freudig den Unterhalt woanders bezahlt. Letzteres hätte auch Edward bereitwillig getan.
Aber irgendetwas in Midge hatte dagegen rebelliert, von ihren wohlhabenden Verwandten angebotene Sorgenfreiheit anzunehmen. Hin und wieder zu Besuch zu kommen und sich in den wohl geordneten Luxus von Lucys Leben sinken zu lassen, war ein Genuss. Darin schwelgte sie auch gern. Aber ihr unabhängigkeitsliebender Sturkopf hielt sie davon ab, so ein Leben geschenkt zu bekommen. Dieselbe Einstellung hatte verhindert, dass sie mit von Verwandten und Freunden geliehenem Geld ein eigenes Geschäft aufmachte. Sie wusste zu genau, was so etwas bedeutet.
Sie lieh sich prinzipiell kein Geld – Beziehungen nutzen tat sie ebenso wenig. Sie hatte sich die Stelle zu vier Pfund pro Woche selbst gesucht, und falls Madame Alfrege gehofft hatte, auf diese Weise an Midges »schicke Freundinnen« als Kundschaft zu kommen, dann hatte Madame Alfrege sich geschnitten. Midge wusste jedes eventuelle Ansinnen ihrer Freundinnen im Keim zu ersticken.
Sie hatte keinerlei Illusionen, was die Arbeit betraf. Sie mochte den Laden nicht, sie mochte Madame Alfrege nicht, sie mochte auch die ständige Unterwürfigkeit gegenüber launischen, unhöflichen Kundinnen nicht, aber sie hatte große Zweifel, ob sie irgendeine andere Stelle bekommen könnte, die sie lieber mögen würde, da sie keinerlei erforderliche Qualifikationen besaß.
Edwards Vorstellung, dass ihr eine breite Palette zur Auswahl stände, kam ihr heute Morgen einfach unerträglich aufreizend vor. Mit welchem Recht lebte Edward eigentlich derart weit entfernt von aller Wirklichkeit?
Sie waren eben Angkatells, allesamt. Sie selbst dagegen nur zur Hälfte! Und manchmal – zum Beispiel heute Morgen – fühlte sie sich überhaupt nicht angkatellsch! Da war sie ganz die Tochter ihres Vaters.
Sie musste an ihn denken, wie immer hin- und hergerissen zwischen Liebe und schlechtem Gewissen. Ein Mann in mittleren Jahren mit grauen Haaren und einem müden Gesicht war ihr Vater gewesen. Ein Mann, der jahrelang hart dafür gekämpft hatte, den kleinen Familienbetrieb aufrechtzuerhalten, der trotz aller Mühe und Anstrengung allmählich den Bach hinuntergehen musste. Es lag nicht an Unfähigkeit seinerseits – es war der Gang allen Fortschritts.
Komischerweise hatte Midges Hingabe nicht ihrer strahlenden Mutter aus der Angkatell-Familie gegolten, sondern immer ihrem stillen, müden Vater. Und wenn sie von den Ferien in »Ainswick« zurückkam, diesem einzig ungestümen Vergnügen ihres Lebens, dann hatte sie den Ausdruck der Abbitte in ihres Vaters müdem Gesicht immer einfach weggewischt, indem sie ihm die Arme um den Hals schlang und erklärte: »Ich bin froh, dass ich wieder zuhause bin – ich bin froh, dass ich wieder zuhause bin.«
Ihre Mutter war gestorben, als sie dreizehn war, und manchmal stellte Midge fest, dass sie eigentlich kaum etwas über sie wusste. Leicht zerstreut, charmant und fröhlich war sie gewesen. Hatte sie ihre Heirat bereut, diese Heirat, die sie aus dem Angkatell-Clan hinauskatapultiert hatte? Midge hatte keine Ahnung. Ihr Vater war nach dem Tod seiner Frau noch grauer und stiller geworden. Er hatte noch vergeblicher gegen den Untergang seines Geschäfts angestrampelt. Und er war, als Midge achtzehn war, still und ohne Aufsehen gestorben.
Danach war Midge bei verschiedenen angkatellschen Verwandten untergekommen, hatte sich von Angkatells etwas schenken lassen, hatte schöne Zeiten mit Angkatells erlebt und hatte dennoch abgelehnt, sich finanziell von ihrem Wohlwollen abhängig zu machen. So gern sie sie hatte – es gab immer wieder Momente wie jetzt, da hatte sie plötzlich das Gefühl, ganz anders zu sein als
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