Das Eulenhaus
das?« Sie schien verwirrt, fast bestürzt, dachte er.
»Weil ich es für wahr halte.«
»Integrität«, sagte Henrietta nachdenklich, »was bedeutet das Wort eigentlich?«
Sie saß still da und starrte den Teppich an, dann hob sie den Kopf und sah ihm fest in die Augen. »Wollen Sie wirklich wissen, warum ich gekommen bin?«
»Sie haben vielleicht Schwierigkeiten, es in Worte zu fassen?«
»Ja, ich glaube, das habe ich. Morgen ist der Termin beim Untersuchungsrichter, Monsieur Poirot. Und man muss vorher genau wissen, wieviel man – «
Sie brach den Satz ab, stand auf und wanderte im Zimmer herum. Am Kamin stellte sie ein paar der Ziergegenstände auf dem Sims um und holte eine Vase mit Strandastern, die exakt mitten auf dem Tisch stand, und stellte sie ganz an den Rand des Kaminsimses. Dann trat sie einen Schritt zurück, legte den Kopf zur Seite und betrachtete das neue Arrangement. »Wie gefällt Ihnen das so, Monsieur Poirot?«
»Überhaupt nicht, Mademoiselle.«
»Das habe ich mir gedacht.« Sie lachte und stellte mit flinken, geschickten Händen alles wieder an die ursprünglichen Stellen. »Gut, wenn man etwas sagen will, dann soll man es sagen! Sie sind irgendwie jemand, mit dem ich reden kann. Und zwar: Finden Sie, dass die Polizei unbedingt wissen muss, dass ich John Christows Geliebte war?«
Sie sagte das trocken und ohne große Emotionen. Sie sah ihn dabei nicht an, sondern über ihn hinweg auf die Wand. Und sie zeichnete mit einer Fingerkuppe die Rundungen der Vase mit den purpurroten Blumen nach.
Poirot hatte den Eindruck, sie benutzte ihre Fingerkuppe wie ein Ventil für ihre Gefühle. Er antwortete knapp und ebenso emotionslos: »Ach so. Sie waren Liebende?«
»Wenn Sie es lieber so nennen.«
Er sah sie fragend an. »Sie haben es anders genannt, Mademoiselle.«
»Ja.«
»Warum?«
Henrietta zuckte die Schultern. Sie kam wieder zum Sofa und setzte sich zu ihm. »Man beschreibt die Dinge immer gern so – akkurat wie möglich.«
Henrietta Savernake wurde immer interessanter, fand Poirot. »Sie waren also die Geliebte von Dr. Christow – seit wann?«
»Ungefähr sechs Monate.«
»Die Polizei, nehme ich doch an, wird das unschwer herausfinden, ja?«
Henrietta überlegte. »Das nehme ich auch an. Das heißt, wenn sie nach so etwas suchen.«
»Oh, das werden sie, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ja, das habe ich mir auch gedacht.« Sie schwieg, legte ihre Hände auf die Knie, betrachtete ihre Finger und schenkte Poirot einen flüchtigen, wohl wollenden Blick. »Nun ja, Monsieur Poirot, was soll man da machen? Zu Inspektor Grange gehen und ihm sagen – was sagt man so einem Schnurrbart? Er sieht so häuslich aus, so nach Familie.«
Poirots Hand kroch zu seinem eigenen, mit Stolz getragenen Schmuckstück hoch. »Meiner dagegen, Mademoiselle?«
»Ihrer, Monsieur Poirot, ist ein Triumph der Kunst. Der sieht nach gar nichts aus als nach sich selbst. Der ist ganz bestimmt einmalig.«
»Absolut.«
»Und wahrscheinlich auch der Grund, weshalb ich hier so mit Ihnen rede. Gesetzt, die Polizei muss die Wahrheit über John und mich wissen, muss die dann auch unbedingt öffentlich bekannt werden?«
»Das kommt darauf an«, sagte Poirot. »Wenn die Polizei findet, dass der Umstand keine Auswirkung auf den Fall hat, geht sie diskret damit um. Sie sind deswegen – sehr besorgt?«
Henrietta nickte und starrte wieder eine Weile auf ihre Finger. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sagte mit einer Stimme, die jetzt nicht mehr locker und kühl klang: »Warum soll man die Sache für die arme Gerda noch schlimmer machen, als sie schon ist? Sie hat John angebetet, und er ist tot. Sie hat ihn verloren. Muss sie denn unbedingt noch eine Last mehr tragen?«
»Sie machen sich also Gedanken ihretwegen?«
»Finden Sie das heuchlerisch? Sie denken doch bestimmt, wenn mir Gerdas Seelenfrieden so wichtig wäre, wäre ich gar nicht erst Johns Mätresse geworden. Aber Sie haben keine Ahnung – es war nicht so. Ich habe seine Ehe nicht zerbrochen. Ich war nur eine in – einer ganzen Reihe.«
»Ah – so war das?«
Sie fuhr herum. »Nein, nein, nein! Nicht, wie Sie denken. Darüber zerbreche ich mir ja am meisten den Kopf! Alle Welt wird ein falsches Bild von John bekommen. Deswegen wollte ich mit Ihnen reden – ich hatte eine ganz vage Hoffnung, es Ihnen begreiflich machen zu können. Ich meine, was für eine Art Mensch John war. Ich kann mir schon genau vorstellen, was passieren wird – die
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