Das Eulenhaus
wollte, dass er mit dem weitermachen kann, was ihn wirklich interessiert – seiner Arbeit. Wenn man ihm nie wieder wehtun sollte – wenn er nie wieder verletzbar sein wollte – nun ja, das war für mich in Ordnung.«
Poirot rieb sich die Nase. »Sie erwähnten eben Veronica Cray, Miss Savernake. War sie auch eine Freundin von John Christow?«
»Bis zum letzten Samstagabend hatte er sie fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesehen.«
»Er kannte sie vor fünfzehn Jahren?«
»Sie waren sogar verlobt.« Henrietta setzte sich wieder hin. »Ich muss Ihnen das wohl alles mal erklären. John hatte Veronica geliebt wie verrückt. Veronica war aber ein Luder reinsten Wassers und ist das noch. Hochgradig egoistisch. Ihrer Ansicht nach hätte John alles sausen lassen sollen, was ihm wichtig war. und Miss Veronica Crays kleiner Schoßgatte werden sollen. John hat die ganze Sache abgebrochen – sehr zu Recht. Aber er hat gelitten wie ein Tier. Und er hatte die fixe Idee, eine Frau zu heiraten, die so völlig anders als Veronica ist wie irgend möglich. Also heiratete er Gerda, die man etwas ungalant als kleines Dummchen bezeichnen könnte. So weit, so gut, aber es kam, wie ihm jeder prophezeit hätte, der Tag, an dem es ihm auf die Nerven ging, mit einer, na ja – etwas Unbedarften verheiratet zu sein. Er hatte etliche Affären – keine davon bedeutend. Gerda hat natürlich nichts davon erfahren. Aber ich persönlich denke, dass mit John seit fünfzehn Jahren etwas nicht stimmte – und das hängt irgendwie mit Veronica zusammen. Er ist nie wirklich über sie weggekommen. Und dann hat er sie letzten Samstag plötzlich wiedergetroffen.«
Nach einer weiteren langen Pause sagte Poirot in Gedanken: »Er ging an dem Abend mit ihr weg, um sie nachhause zu begleiten, und kam um drei Uhr morgens ins ›Eulenhaus‹ zurück.«
»Woher wissen Sie das denn?«
»Eins der Hausmädchen hatte Zahnschmerzen.«
»Lucy hat viel zu viel Personal«, stellte Henrietta beiläufig fest.
»Aber Sie selbst, Mademoiselle, Sie wussten es.«
»Ja.«
»Woher wussten Sie es?«
Wieder gab es eine winzige Pause. Dann antwortete Henrietta langsam: »Ich hatte aus dem Fenster geguckt und sah ihn zurückkommen.«
»Auch Zahnschmerzen, Mademoiselle?«
Sie lächelte ihn an. »Eine sehr andere Art Schmerzen, Monsieur Poirot.« Sie stand wieder auf und ging zur Tür.
Poirot sagte: »Ich begleite Sie zurück, Mademoiselle.«
Sie nahmen den Weg über die kleine Straße, dann durch das Tor und die Kastanienschonung.
»Wir müssen nicht am Schwimmbecken vorbei«, sagte Henrietta. »Wir können auch links hochgehen und den Weg oben durch die Blumenbeete nehmen.«
Ein Pfad führte steil den Hügel hinauf auf den Wald zu. Nach einer Weile kamen sie zu einem breiteren Weg, der im rechten Winkel oberhalb der Kastanien über den Hügel führte. Bald standen sie vor einer Bank. Henrietta setzte sich, Poirot ebenfalls, neben sie. Über und hinter ihnen war Wald, und unter ihnen standen dicht gedrängt die Kastanien des kleinen Hains. Direkt vor der Bank ging ein gewundener Pfad den Hügel hinab, und unten war eine schimmernde blaue Wasserfläche zu erkennen.
Poirot beobachtete Henrietta schweigend. Ihre Gesichtszüge waren jetzt wieder gelöst, die Spannung war gewichen. Sie sah runder und jünger aus. Er konnte sich vorstellen, wie sie als junges Mädchen ausgesehen haben musste.
Schließlich erkundigte er sich sanft: »Woran denken Sie gerade, Mademoiselle?«
»An ›Ainswick‹.«
»Was ist ›Ainswick‹?«
»›Ainswick‹? Ein Anwesen.« Sie beschrieb ihm »Ainswick« fast verträumt. Das elegante weiße Haus, die große Magnolie, die immer größer wurde, und alles wie in ein Amphitheater aus bewaldeten Hügeln geschmiegt.
»Es war Ihr Zuhause?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe in Irland gelebt. Aber wir sind alle immer in den Ferien nach ›Ainswick‹ gefahren. Edward, Midge und ich. Lucy wohnte da. ›Ainswick‹ gehörte ihrem Vater. Nach seinem Tod ging es an Edward.«
»Nicht an Sir Henry? Aber er ist derjenige mit dem Titel.«
»Ach, das hängt mit einem Orden zusammen«, erklärte sie. »Henry ist ansonsten ein entfernter Verwandter.«
»Und nach Edward Angkatell, an wen geht dieses ›Ainswick‹?«
»Komisch, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wenn Edward nicht heiratet – « Sie brach ab. Ein Schatten wanderte über ihr Gesicht. Poirot fragte sich, was genau sie wohl gerade dachte.
»Ich nehme an«, fuhr Henrietta fort,
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