Das Exil Der Königin: Roman
gingen sie über die noch immer von Menschen bevölkerte Brücke zurück. Sie waren beide in ihre eigenen Gedanken vertieft. Auf dem ganzen Weg fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, sich bereit zu erklären, Han Alister zu unterrichten. Hatte es mit Amon und ihrer Enttäuschung zu tun, dass sie zugesagt hatte? War es der Wunsch, etwas zu tun, das er nicht gutheißen würde? Zuerst der Brief an Königin Marianna. Und jetzt das.
Wäre es nicht besser, sich von möglichst jedem außerhalb von Wien House fernzuhalten? Wäre es nicht besser, sich von jemandem fernzuhalten, der ihr Herz schneller schlagen ließ und ihre Zunge ständig dazu brachte, sich zu verheddern? Der in ihr den Wunsch weckte, alle Regeln zu vergessen?
Gab es irgendjemanden in den ganzen Sieben Reichen, gegen den mehr sprach als ihn? Jemanden, der für alle politischen Gruppierungen in den Fells weniger annehmbar sein würde als Han Alister?
Nun. Es war ja nicht so, dass sie ihn heiraten wollte.
Am Rand des Kolleghofs von Wien House blieb sie stehen. »Ich komme jetzt allein klar«, sagte sie und deutete auf ein Gebäude. »Mein Wohnheim ist gleich da vorn.«
»Machst du dir Sorgen, dass Korporal Byrne uns sehen könnte?«, fragte Han und neigte seinen Kopf in Richtung Grindell.
Genau darüber machte sie sich Sorgen.
»Wieso denkst du, es könnte mir Sorgen machen?«, schnappte sie.
»War nur so eine Vermutung.«
»Du scheinst zu glauben, dass da irgendeine – eine Sache zwischen uns ist«, sagte Raisa. »Ich weiß nicht, was Cat dir erzählt hat, aber was immer es ist, es stimmt nicht.«
»Nun.« Han rieb sich das Kinn. »Da ist ganz sicher irgendeine Sache . Ich bin mir nur nicht sicher, welcher Art diese Sache ist.«
Sie schnaubte geräuschvoll, um ihm zu zeigen, was sie davon hielt. »Danke, Neuling Alister, für den Tee und das Feuerwerk. Ich hatte eine wunderbare Zeit. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.« Sie schritt mit hoch erhobenem Kopf über den Kolleghof auf Grindell House zu. Als sie fast da war, rief er mit lauter, deutlich hörbarer Stimme hinter ihr her: »Bis morgen Abend, Neuling Morley!«
Sie wirbelte herum. »Was?«
»Morgen ist Dienstag.« Er machte eine tiefe Verbeugung. »Um acht in der Schildkröte !« Dann drehte er sich um und verschwand in der Nacht.
Raisa stand da und sah ihm nach; ein Dutzend schlagfertige Antworten drängten sich auf ihre Zunge und erstarben dann auf ihren Lippen.
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Neuigkeiten von zu Hause
A ls Raisa die Stufen zu Grindell House hochging und die schwere Vordertür öffnete, sah sie ein schwaches Licht im Gemeinschaftsraum brennen. Amon saß aufrecht am Tisch, vor sich ein unaufgeschlagenes Buch. Als er sah, dass sie es war, sackte er etwas zusammen und wirkte erleichtert.
»Endlich«, sagte er. »Wo warst du? Ich habe Mick und Talia auf die Suche nach dir geschickt. Ich hatte Angst, dass dir etwas passiert ist.«
»Ich habe mir das Feuerwerk angesehen«, antwortete sie. »Danach bin ich direkt hierhergekommen.«
»Das Feuerwerk? Ich dachte, du wolltest hierbleiben.« Amon rieb sich die Stirn mit einem Handballen.
»Ich habe es mir anders überlegt.« Raisa zog ihren Umhang aus und hängte ihn neben das Feuer.
Amon sah auf die Uhr auf dem Kaminsims. »Das Feuerwerk ist seit einer Stunde zu Ende. Hast du so lange gebraucht, um hierherzukommen?«
»Wieso bist du eigentlich schon hier?«, fragte Raisa verärgert. Dafür, dass es der kürzeste Tag des Jahres war, war es die längste Nacht ihres Lebens, und sie war noch nicht einmal vorbei. »Habt ihr euch gestritten, du und Annamaya, oder was?«
»Rai«, sagte Amon. »Lass das.«
»Nun, du befragst mich doch auch.« Ein schlechtes Gewissen machte sie immer reizbar. Bilder von Amon und Han hallten in ihrem schmerzenden Kopf nach.
Er seufzte. »Wir haben zusammen gegessen, aber dann habe ich mich entschieden, nicht mehr bis zum Feuerwerk zu bleiben. Wir waren beide müde.« Und er sah tatsächlich müde aus. Und traurig. Raisa verspürte augenblicklich Reue.
»Es gibt heute Nacht keine Sperrstunde«, sagte sie etwas sanfter. »Auf der Brückenstraße waren immer noch jede Menge Leute, als ich zurückgegangen bin.«
»Auf der Brückenstraße?« Amon zog die Augenbrauen zusammen. »Dort bist du gewesen?«
Sie war zu müde, um zu lügen oder ihm alles ausführlich zu erklären. »Ich habe beschlossen, nach Hallie und Talia zu suchen. Unterwegs hat mich Henri Tourant in einer Gasse angegriffen.
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